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2. „Ein großer Umschwung“

Die soziale Bewegung und das politische Bewusstsein der Katholiken

Die Weberunruhen des Jahres 1844 in Schlesien wurden zum Sinnbild des Aufstandes aus Verzweifelung, des politischen Erwachens des Proletariats, aber auch – nach dem blutigen Militäreinsatz – zum Symbol obrigkeitlicher Parteinahme für die Besitzenden. Während der Hungersnöte in den 1840er und 1850er Jahren strömte die verelendete Landbevölkerung in die schlesische Schwerindustrie sowie ins Ruhr- und Saargebiet; andere wanderten ganz aus, vor allem nach den USA. Die Industrialisierung Deutschlands, die erst ab den 1850er Jahren in Schwung kam, überflügelte noch vor der Jahrhundertwende die europäischen Nachbarn, einschließlich England. Die Gesamtproduktion wurde gesteigert, doch öffnete sich unerbittlich die Schere zwischen Arm und Reich. Abhängigkeit vom Fabrikanten, unhygienische Wohn- und Arbeitsstätten sowie familiäre und religiöse Bindungslosigkeit der Arbeiter waren alltäglich.

„Wollen wir also die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, der erkennt die Gegenwart; wer sie nicht begreift, dem ist Gegenwart und Zukunft ein Rätsel.“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) widmete den größten Teil seines Lebens einer gerechten sozialen Ordnung. Die Freiheit der Kirche und der Gläubigen sowie die Nöte der Unterprivilegierten waren die Themen seiner Predigten, seiner Reden vor katholischen Vereinen und seiner Forderungen in den verschiedenen Parlamenten, in die er gewählt wurde. Der spätere Mainzer Bischof stammte aus einer adeligen Münsteraner Familie. Zunächst hatte er Jura studiert und war preußischer Staatsdiener geworden. Der Kölner Kirchenstreit (1837) um die Konfession der Kinder aus Mischehen, in deren Verlauf der unnachgiebige Kölner Erzbischof von der preußischen Regierung in Kerkerhaft verbracht wurde, veranlasste Ketteler, den Dienst aus Gewissensgründen zu quittieren. Einige Jahre später studierte er Theologie in Eichstätt und München und wurde 1844 in Münster ordiniert. Zu Beginn seiner seelsorglichen Arbeit bewegte er sich ganz in der karitativen Tradition der Kirche. Die Quelle der sozialen Übel sah er in der Gesinnung: in Habgier, Genusssucht und Selbstsucht bei den Reichen, die sich ihrer christlichen Pflichten entzogen, wie bei den Armen, die ihren Hass auf die Reichen nährten. Vom Staat, der dem Wirtschaftsliberalismus Tür und Tor geöffnet hatte, erwartete er keine Lösung. „Hier wird eine neue Kraft erfordert zur Heilung der Gesinnung, die Kraft des Lebens und der Liebe.“ Wie Franz Joseph Buß hoffte Ketteler auf eine Reform der alten Stände.

 

„Thätige Liebe heilt alle Wunden“

Die althergebrachte Armenpflege wurde von Orden, verstärkt auch von neuen kirchlichen Laienvereinen wie den Elisabeth-Konferenzen (ab 1840) und den Vinzenz-Konferenzen (ab 1845) betrieben, konnte die Missstände aber nicht an der Wurzel packen. Einen anderen Weg beschritt hingegen Adolph Kolping (1813–1865), Sohn eines Schäfers aus Kerpen bei Köln, der sich als Schuhmachergeselle entschloss, Priester zu werden. Als 24-Jähriger wurde er ins Kölner Marzellengymnasium aufgenommen; nach dem Abitur 1841 ging er zunächst an die Universität München, wo er unter anderem Joseph Görres begegnete. Am 13. April 1845 empfing Kolping in der Kölner Minoritenkirche die Priesterweihe.

Als Kaplan in der Diasporagemeinde Wuppertal-Elberfeld trifft er auf ein reges Vereinsleben. Aus einem losen Freundschaftsbund von Gesellen, der beim Schreinermeister Thiel zusammenkommt, formt der Lehrer Breuer einen festen Verein mit einem durchdachten Bildungsprogramm. Nach einem halben Jahr wird Kolping zum Präses gewählt. Seine Gedanken zur gesellschaftlichen Lage und seelischen Verfassung der Handwerkergesellen münden in ein Programm zur Förderung des sozialen Lebens.

„Es fehlt dem jungen Arbeiter ein Zufluchtsort außer der Herberge und dem Wirtshau- se, wo er recht eigentlich eine Weile rasten und Nahrung für seinen Geist erhalten könnte, die auf ihn berechnet, die ihm zusagen müsste. Es fehlt ihm ferner die Gelegenheit, sich für seinen Beruf, für seine Zukunft gewissermaßen auszubilden, abgesehen von der technischen Fertigkeit, welche ihm die Werkstätte des Meisters mitgeben soll. Noch mehr fehlt ihm eine passende, Geist und Gemüt wahrhaft aufrichtende und stärkende Unterhaltung und Erheiterung, wie er sie weder zu Hause, noch im Wirtshause, noch an öffentlichen Vergnügungsorten erhält. Auch muss die Religion wieder wachgerufen und aufgefrischt werden in seinem Herzen, indem ihm wieder ein lebhafteres Interesse dafür eingeflößt wird“ (Adolph Kolping: Der Gesellen-Verein, 1848).

Als Domvikar in Köln und Redakteur verschiedener katholischer Zeitungen sowie des „Kalenders für das katholische Volk“ initiiert Kolping Gesellenvereine in den deutschen Ländern und darüber hinaus. Zwar obliegt die geistliche Führung einem Kleriker, doch sind es nicht Vereine nach kirchlichem, sondern nach bürgerlichem Recht. Ziel ist der „tüchtige Bürger“, die Integration der Gesellen in die bürgerliche Gesellschaft. „In kirchlicher Hinsicht fordern wir nichts Besonderes, wenn die Mitglieder freundlicher Einladung folgen, macht uns das doppelte Freude“ (Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 3, 1979, S. 43).

Die Mischung aus Zufluchtsort, Bildung und Unterhaltung trifft das Bedürfnis der Handwerkergesellen. 1858 gab es 191 Vereine (ca. 30000 bis 35000 Mitglieder), 1865 bereits 420 Vereine (über 60000 Mitglieder). Zahlreiche Bürger und auch Adelige sind beeindruckt und unterstützen das Werk; Papst Pius IX. spricht dem „Gesellenvater“

1862 seine Anerkennung aus. In einem Referat vor der Fuldaer Bischofskonferenz 1869 empfiehlt Ketteler dieses Modell auch für die Arbeiterschaft: „Den größten Erfolg dürfte man sich wohl von dem Wirken eines Mannes versprechen, der sich zur Lebensaufgabe machte, für die Arbeiter das zu sein, was der selige Kolping für die Gesellen gewesen“ (J. Mumbauer: Kettelers Schriften III, S. 163).

 

Entchristlichung

Wie die Kirche und die meisten Bürger seiner Zeit sah Kolping die Hauptursache für das Elend des neuen Standes zwar auch in der Entchristlichung der Arbeiter, er wies ihnen aber nicht die alleinige Schuld an ihrem Zustand zu. Vielmehr beklagte er die Heimatlosigkeit und den Verlust der ehemals erzieherischen Fürsorge des Meisters durch das entpersönlichte Fabrikleben.

Die Gesellen seien „tief im Boden des Herzens kerngesund“; es gelte jedoch, ihre Sprache zu sprechen, an ihren Erfahrungen anzuknüpfen und so die eigenen Kräfte der Betroffenen zu fördern.

 

Pilgernde Kirche

Zeitgleich mit der industriellen Entwicklung änderte sich auch die politische Welt tief- greifend. Im Jahre 1844 fand ein weithin prägendes Ereignis statt: Die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier. Im preußisch regierten Rheinland – die Wogen des Kölner Kirchenstreits hatten sich etwas geglättet – stellte der Trierer Bischof Arnoldi die als unzertrenntes Gewand Christi verehrte Reliquie aus. Der preußische Staat erhob keine Ein- wände gegen die Wallfahrt. Mit der stetig wachsenden Schar der Pilger (über 500 000) bedachten jedoch die protestantische und liberale Presse sowie die deutschkatholische Bewegung mit ihrer „Los-von-Rom-Parole“ das Ereignis mit Unverständnis bis hin zu schärfster Polemik. Diese Frömmigkeitsform galt ihnen als rückständig und „unaufgeklärt“, doch weit gefährlicher schien die politische Stoßrichtung, in der man „jesuitische“ und „ultramontane“ Ablösungsversuche der Rheinprovinz zu erkennen glaubte.

Die Wallfahrt wurde zur „größten organisierten Massenbewegung des Vormärz“ (W. Schieder); und nicht zuletzt wegen der heftigen Angriffe wurde sie zur Initialzündung eines katholischen politischen Bewusstseins. Die wenigen zugelassenen katholischen Presseorgane verteidig- ten mal sachlich, mal heftig die katholische Tradition. Auch Joseph Görres (1776 – 1848), der streitbarste und bekannteste katholische Publizist des 19. Jahrhunderts, schrieb auf Anregung August Reichenspergers über die Ereignisse. Görres, Gründer des „Rheinischen Merkur“ (1814), war vor dem preußischen Staat ins Straßburger Exil geflohen (1819), von wo ihn der bayerische König Ludwig I. an die neue Universität München berief (1827). Mit überbordender sprachlicher Bildkraft preist er das Zusammenströmen der rheinischen Völker als „Symbol der unzer- reißbaren Einheit“. Einheit bedeutet ihm sowohl Überwindung der konfessionellen Trennung – im Sinne gegenseitiger Toleranz – als auch der deutschen Kleinstaaterei. Im Strom der Wallfahrer erblickt er eine neue Kraft: „An die Massen haben daher dießmal die Symbole ihr prophetisch Wort gerichtet; denn mehr, als je zuvor, wird die Entscheidung der Zukunft bei den Massen seyn ...“ (H. Raab: Joseph Görres, 1978, S. 212).

Mit Gründung der Piusver- eine für religiöse Freiheit (März 1848 in Mainz; bis Oktober 17 Zentralvereine mit 1 200 Ortsvereinen) gewann die katholische Bevölkerung eine erste bürgerlich-rechtliche Struktur für politische Zwecke. Ziel war es, im protestantisch- preußischen Staat eine einheitliche politische Stimme zu haben. Zum einen wollte man für die korporative Freiheit der Kirche kämpfen, zum anderen für bürgerliche Freiheitsrechte (siehe Kasten S. 8). 1848 fand die erste Generalversammlung der katholischen Vereine in Mainz statt, der erste deutsche Katholikentag. Dessen Präsident ist Franz Joseph Buß, Hauptredner ist Wilhelm Emmanuel von Ketteler, zu der Zeit Pfarrer von Hops- ten/Westfalen und Mitglied der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche. In diesen beiden Protagonisten wird die politische und die soziale Dimension der katholischen Bewegung augenscheinlich.

 

Sozialpolitisches

Ketteler bestand darauf, ohne Berührungsängste alle Vorschläge, die zur Lösung der sozialen Frage beitragen könn- ten, zu sammeln. Er stimmte Marx und Lassalle in deren Kapitalismuskritik zu und beklagte die Missachtung der Würde der Arbeiter durch die hemmungslose „Geldmacht“. Dem revolutionären Kommunismus und der antikirchlichen Sozialdemokratie warf er allerdings vor, nicht den Aus- gleich der Interessen zu suchen, sondern Hass und Klassenkampf zu predigen. Bereits in seinen berühmten Adventspredigten von 1848 hatte er das Recht eines Jeden auf privates Eigentum vertreten, wobei er – gemäß der Lehre des Thomas von Aquin – die Sozialbindung betont hatte. Mit der Gewerbefreiheit hatte der Staat eine Rahmenordnung für die mittlerweile florierende Wirtschaft gesetzt. In den 1860er Jahren gelangte Ketteler zu der Einsicht, dass es grundsätzlich Aufgabe des Staates sei, durch entsprechende Gesetze das Wohl des ganzen Volkes, auch das der Arbeiter, zu ordnen. Damit gab er die Idee einer Ständereform auf, akzeptierte das kapitalistische Wirtschaftssystem und forderte „es zu mildern, für alle einzelnen schlimmen Folgen desselben die entsprechenden Heilmittel zu suchen und auch die Arbeiter an dem, was an dem System gut ist, an dessen Segnungen Anteil nehmen zu lassen“. An erster Stelle stand zwar nach wie vor die Pflicht der Kirche, karitativ und erzieherisch zu wirken, doch stellte Ketteler nun sozialpolitische Forderungen an den Staat.

In einer Ansprache an 10000 Arbeiter auf der Liebfrauen-Heide bei Offenbach (1869) proklamiert er das Recht der Arbeiter, sich zur Vertretung ihrer berechtigten Interessen zusammenzuschließen, als „wahre Naturnotwendigkeit“. Er formuliert die „Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung“: 1. gerechter Arbeitslohn (einschließlich Streikrecht), 2. Verkürzung der Arbeitszeit, 3. Ruhetage: Sonn- und Feiertage, 4. Verbot der Kinderarbeit (bis zum Ende der Schulpflicht), 5. Verbot der Beschäftigung von Müttern und jungen Mädchen in Fabriken.

 

Gleiches Bürgerrecht

Ketteler gehörte mit Buß, den Brüdern August und Peter Reichensperger unter anderem zu den Vorreitern des sozialen und politischen Katholizismus. Ein Großteil der Katholiken, Klerus wie Bürger, hing noch lange den alten Vorstellungen von fürsorglicher Bevormundung des „vierten Standes“ nach. Größere Einigkeit über die Schichten und Stände hinweg fand man im Kampf für die Kirchenfreiheit. Die Artikel für die religiöse Freiheit, die in der Paulskirchenversammlung (1848/49) schließlich verabschiedet wurden, kamen nicht zuletzt auf Druck von Petitionen der Piusvereine zustande. Zwar trat diese Verfassung nie in Kraft, doch gingen die Bestimmungen in die oktroyierte (aufgezwungene) Preußische Verfassung (1848/50) ein. Tatsächlich wurden sie jedoch unterlaufen, die protestantische Kirche der Hohenzollern wurde als Staatskirche weiterhin privilegiert. Ketteler gab sein Reichstagsmandat von 1871 auf, als er feststellen musste, dass sein Ziel Freiheit für die Kirche nicht durchsetzbar war. Jahrzehntelange Streitigkeiten über Ehe- und Erziehungsrecht sowie Schulfreiheit mündeten schließlich in den Kulturkampf.

Sozialbewegung – Teil 4

Sozialbewegung – Teil 1

Sozialbewegung – Teil 3

Sozialbewegung – Teil 6

Sozialbewegung – Teil 7

Sozialbewegung – Teil 5

BR-Begleitmaterial

Das Bayerische Fernsehen hat den Dokumentarfilm „Kolping“ gesendet und dazu Begleitmaterial herausgegeben, auch für den Schulunterricht.

Hier zu den Begleittexten

Kolping – der Publizist

Adolph Kolping war nicht nur Gesellenvater, Sozialreformer, Pädagoge und Pionier der Erwachsenenbildung, sondern zugleich auch einer der erfolgreichsten katholischen Publizisten.

Weitere Infos

Was würde Kolping heute tun?

Was würde Adolph Kolping heute – 200 Jahre nach seiner Geburt – in meiner Stadt tun? – Einige Gedankenanstöße.

Hier zum Beitrag