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Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Deutschen Reiches wuchs der Anspruch auf eine beherrschende Stellung in der Weltpolitik. Kaiser Wilhelm II. schrieb das Ziel „Weltmacht“ auf seine Fahne und betrieb den Flottenausbau, der ihm in der Zeit von Kolonialismus und Imperialismus als das Instrument militärischer Stärke galt. Das deutsche Volk war ungeachtet innerer Spannungen im Patriotismus geeint. Ähnlich waren Lage und Stimmung in den europäischen Nachbarländern. Der Wettbewerb der Nationen steigerte sich, bis er 1914 mit den Schüssen auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo in blutigen Kampf umschlug. Der Reichstag, einschließlich Zentrum und Sozialdemokraten, bewilligte die Kriegskredite, deren Schuldenlast später zur Inflation beitrug. Die Kriegsbegeisterung war allgemein. Wie andere vaterländisch gesinnte Vereine förderte auch der „Volksverein für das katholische Deutschland“ den Kampfesmut der Soldaten und den Durchhaltewillen der Daheimgebliebenen.
Elend des Krieges
Als der Feldzug länger dauerte als gedacht und Not und Tod um sich griffen, sprach man von einer „Weltenwende“, in der sich der Christ bewähren müsse. Dagegen hatte Papst Benedikt XV. (1914–1922) in seiner ersten Enzyklika vom 1. November 1914 an die kriegführenden Länder appelliert, den „brudermordenden Streit“ zu beenden. Vergebens. Die vierjährige Metzelei kostete fast acht Millionen (Mio.) Menschenleben und 19,4 Mio. Verwundete und Invalide, davon 1,8 Mio. bzw. 4,25 Mio. Deutsche. Zum Elend des Krieges kamen Streiks, Aufruhr und bürgerkriegsartige Kämpfe hinzu.
Im November 1918 nimmt die deutsche Delegation unter Vorsitz des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger das Waffenstillstandsdiktat der Alliierten entgegen; drei Jahre später wird er von Rechtsradikalen ermordet. Die materiellen Kriegsfolgen, wie Reparationspflichten und Gebietsverluste, werden im Versailler Vertrag festgeschrieben. Begründet werden die drückenden Lasten mit der einseitigen Zuweisung der Kriegsschuld – eine moralische Abrechnung, die zusätzlich zur Verbitterung in weiten Kreisen des Volkes führt.
Weimarer Verfassung
Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündete am 9. November die Abdankung des Kaisers, Philipp Scheidemann (SPD) rief die Deutsche Republik aus. Damit konnte die Räterepublik verhindert und eine parlamentarische Demokratie aufgebaut werden. Der Sturz der Monarchie war für viele Bürger, auch für Katholiken und christliche Gewerkschafter, ein Schock. Dennoch sammelten sich die katholischen Mandatsträger und stellten sich der neuen Situation. Auch der Vorsitzende der Rheinischen Zentrumspartei, Carl Trimborn, engagiert im Gesellenverein, unterstützte den Aufruf des Zentrums vom Dezember 1918: „Durch gewaltsamen Umsturz ist die alte Ordnung Deutschlands zerstört.“ Eine neue Ordnung ist auf dem Boden der gegebenen Tatsachen zu schaffen; diese Ordnung darf nach dem Sturz der Monarchie nicht die Form der sozialistischen Republik erhalten, sondern muss eine demokratische Republik werden. An der großen und schweren Aufgabe mitzuarbeiten, ist in erster Linie die deutsche Zentrumspartei berufen und bereit.“ Im so genannten Verfassungsstreit, in dem monarchistische Katholiken die „Verfassung ohne Gott“ ablehnten, beriefen sich die republikanisch Gesinnten auf Papst Leo XIII., der jede Staatsform als hinnehmbar erklärt hatte, soweit sie Ordnung stiftet, das Gemeinwohl zum Ziel hat und das christliche Sittengesetz achtet.
Die Nationalversammlung beschloss am 11. August 1919 in Weimar die Reichsverfassung (WRV). Die Katholiken waren durch das Zentrum und die Bayerische Volkspartei vertreten. Langjährige Forderungen des Katholizismus fanden Eingang in den Grundrechtsteil und in die Kirchenartikel: Vereinsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie soziale Rechte wie Freiheit und Sozialbindung des Eigentums, Koalitions- und Tarifrecht, Mitbestimmung und Recht auf Fürsorge. Aber eine der Schwächen der WRV bestand darin, dass die Grundrechte durch einfache Gesetze außer Kraft zu setzen waren.
Arbeiter treibende Kraft
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine moderne Sozialgesetzgebung waren denkbar schlecht. Bis 1923 herrschten hohe Arbeitslosigkeit und eine galoppierende Inflation, die nicht nur das private Geldvermögen zunichte machte, sondern auch die Sozialversicherungen an den Rand der Zahlungsunfähigkeit brachte. 1924 bis 1928 entspannte sich die wirtschaftliche Lage, bis es 1929 zur Weltwirtschaftskrise kam.
Damit einher gingen eine unheilvolle politische Radikalisierung und Gewalttätigkeiten. Zunächst jedoch bot die WRV die Basis für die Weiterentwicklung des Arbeits- und Sozialrechts.
Die sozialpolitische Umgestaltung ging zu einem guten Teil von der organisierten Arbeiterschaft aus. Schon während des Krieges konnte eine funktionsfähige Wirtschaft nur mit und nicht gegen die Arbeiter aufrechterhalten werden. Erste gesetzliche Regelungen der betrieblichen Mitsprache, die Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner der Arbeitgeber und der Acht-Stunden-Tag waren die Folge. Um den Einfluss zu erhöhen, schlossen sich die christlichen Gewerkschaften auf ihrem Zehnten Kongress 1920 in Essen zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammen, der die nichtsozialistischen Arbeitnehmerorganisationen vereinte. Auf dem Kongress rief der Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald – erfolglos – zur Gründung einer interkonfessionellen christlichen Partei auf, die „deutsch, christlich, demokratisch, sozial“ sein sollte.
Tragende Säule der republikanischen Neuordnung war die Arbeitsgesetzgebung, die in achtjähriger Amtszeit – unter zwölf Regierungen – von Heinrich Brauns (1868–1939) geprägt wurde. Der Arbeitsminister, Sohn eines Schneiders aus Köln, war Priester und Sozialwissenschaftler. Nach einer Begegnung mit dem Gründer der Gewerkschaft christlicher Bergarbeiter, August Brust, warb er für die interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften; dadurch geriet er bei den preußischen Behörden als „roter Kaplan“ in Verruf. Brauns wirkte ab 1900 im Volksverein für das katholische Deutschland für die Arbeiterbildung, 1919 wurde er in die Nationalversammlung und 1920 in den Reichstag gewählt. Als Abgeordneter widmete er sich gemeinsam mit Franz Hitze der Sozialpolitik. Den Räteartikel (165 WRV) formulierten sie mit und traten für ein gemäßigtes Betriebsrätegesetz ein, dass den radikal-sozialistischen Rätegedanken ausschloss. Auch die Möglichkeit der Sozialisierung von Produktionsmitteln konnte die katholische Seite bejahen. Ihre traditionelle Kapitalismuskritik firmierte in den 1920er Jahren unter dem Schlagwort „christlicher Sozialismus“, der allerdings nicht im Sinne des sozialdemokratischen oder kommunistischen Sozialismus, sondern aus der katholischen Soziallehre heraus im Sinne des Solidarismus interpretiert wurde.
Arbeitnehmerschutz
Heinrich Brauns Leitidee war es, die Arbeit nicht als Ware zu behandeln, sondern den „arbeitenden Menschen als solchen zu erfassen und seine Eingliederung und Stellung im Wirtschafts- und Rechtsleben menschlich zu ordnen“ (Brauns: Katholische Sozialpolitik, 1976). Unter seiner Ägide wurden der Arbeitnehmerschutz und die Sozialversicherung weiterentwickelt; arbeitsmarktpolitische Gesetze (z.B. Arbeitsvermittlung) sowie Ausbau des Schlichtungswesens, der Arbeitsgerichte und der Sozialfürsorge rundeten die Reformarbeiten ab.
Zum 40. Jahrestag von „Rerum novarum“ erschien die wohl bedeutendeste Sozialenzyklika: „Quadragesimo anno“ von Pius XI. (1931). Das Prinzip des solidarischen Gesellschaftsaufbaus wird entfaltet und über die Arbeiterfrage hinaus auf die gesamte staatliche Ordnung angewandt. Zustände- und Gesinnungsreform werden angemahnt. Der individualistische Geist im Gefolge der Französischen Revolution habe die alte Gliederung der Gesellschaft zerschlagen, ohne eine neue zuzulassen. Damit seien politische und wirtschaftliche Kräfte rücksichtslos entfesselt worden, wodurch dem Staat wie dem einzelnen zuviele Aufgaben aufgeladen worden seien. Diesem Zustand sei der „höchst gewichtige“ Grundsatz der Subsidiarität entgegenzuhalten: Zwischen dem Staat und dem Einzelnen müssen die natürlichen Gliederungen zugelassen und gefördert werden, die je nach Vermögen die notwendigen Gemeinschaftsaufgaben übernehmen (siehe Kasten Seite 20). Die Überwindung der Klassengesellschaft verspricht sich die Kirche von den Berufsständen. Die Enzyklika betont hinsichtlich der berufsständischen Körperschaften (Nr. 85), „die Menschen haben die volle Freiheit, eine Form nach ihrem Gefallen zu wählen, wenn nur der Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohls Genüge getan wird“. Sozialistische Klassenkampf- und Kollektivierungsideen werden ebenso ausgeschlossen wie faschistische Korporationsideologien.
Die Enzyklika war 1930/31 im „Königswinterer Kreis“, einer losen Verbindung katholischer Sozialwissenschaftler, vorbereitet worden. Neben Gustav Gundlach SJ und Oswald von Nell-Breuning SJ gehörten u. a. Theodor Brauer, Götz Briefs, Paul Jostock und Heinrich Rommen dazu, die aber alle nicht wussten, dass die Jesuiten von Pius XI. als Redakteure einer Enzyklika berufen waren.
Wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem II. Weltkrieg konnte die Enzyklika erst nach 1945 Wirkung entfalten.
Frau und Politik
Zu den Gliederungen, die dem Gemeinwohl dienten, zählten die katholischen Verbände. Nachdem das Recht auf allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahl durchgesetzt war, stand speziell den Frauen neben der sozialen Arbeit auch das Feld der Politik offen. Helene Weber (1881–1962) hatte als Tochter eines Volksschullehrers in Elberfeld selbst eine Ausbildung zur Gymnasiallehrerin genossen. Seit 1911 in Köln tätig, engagierte sie sich nebenher im Katholischen deutschen Frauenbund für die Schulung von Arbeiterinnen. Sie war so erfolgreich, dass der Frauenbund 1916 eine Soziale Frauenschule gründete und ihr die Leitung übertrug. Im gleichen Jahr war sie Mitgründerin des Berufsverbandes katholischer Fürsorgerinnen, dessen Vorsitzende sie wurde. 1919 gehörte sie der Nationalversammlung an, ab 1924 saß sie im Reichstag. Mit Christine Teusch, gleichfalls Lehrerin und erste Frauen-Verbandssekretärin im Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften, zählte sie zu der handvoll weiblicher Zentrumsabgeordneter; 1925 kam sie in den Parteivorstand. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen führten sie in das preußische Wohlfahrtsministerium, dem Adam Stegerwald als Minister vorstand. Jugendfürsorge und das berufliche Fortkommen der Frauen waren hier ihre Schwerpunkte. Im März 1933 votierte sie in einer Probeabstimmung des Zentrums mit Christine Teusch und Heinrich Brüning gegen das Ermächtigungsgesetz, beugte sich aber wie die anderen bei der Reichstagsabstimmung der Fraktionsdisziplin. Als „politisch unzuverlässig“ wurde sie im Sommer 1933 aus dem Beamtendienst entlassen, später klagte sie, dass sie sich nicht alle „wie eine Mauer gegen den Nationalsozialismus“ gestellt hätten.
Widerstand
Zu den bedeutenden katholischen Vereinen dieser Zeit gehört der Verband der Katholischen Arbeiter- und Knappenvereine Westdeutschlands. Verbandssekretär Bernhard Letterhaus (1894–1944) war ein politisches Talent. Der Textilfacharbeiter aus Barmen, der gerne Priester geworden wäre, musste mit zwanzig Jahren in den Krieg, aus dem er wohl als Patriot, aber als Anti-Nationalist zurückkehrte. Ab 1928 war er Mitglied des Preußischen Landtags (Zentrum), wo er gegen Kommunisten und Nationalsozialisten stritt. Auf dem Katholikentag in Münster 1930 warnte er vor „dem falschen Kreuz“ und versuchte erfolglos, eine „Volksfront“ aus christlichen Gewerkschaften, katholischen Arbeiter- und Gesellenvereinen gegen die SA zu schmieden. Als Hitler 1933 Reichskanzler wurde, beschwor Letterhaus die Zentrumsfraktion zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes. Prälat Ludwig Kaas erklärte jedoch für die Zentrumsfraktion, angesichts der „brennenden Not“ von Volk und Staat reiche die Zentrumspartei „in dieser Stunde allen, auch früheren Gegnern, die Hand, um die Fortführung des nationalen Rettungswerkes zu sichern“. Am 2. Mai wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, Gewerkschaftsführer verhaftet, das Vermögen beschlagnahmt. Die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) wurde als Zwangsvereinigung der Arbeitnehmer und Unternehmer eingerichtet. In diese Zeit fiel der Abschluss des Konkordats der Katholischen Kirche mit dem Deutschen Reich (20. Juli). Die katholische Kirche knüpfte an das Konkordat die Hoffnung, ihre Existenz im Staat sichern zu können. Auch im Falle des Reichskonkordats hatte Letterhaus vergeblich versucht, über hohe Geistliche zu intervenieren. Er sah in dem Vertrag weniger den Schutz der Kirche als vielmehr eine Aufwertung der NS-Regierung.
Trotz Repressalien wirkte Letterhaus für die katholischen Arbeitervereine, durch die im Herbst 1938 verbotene Verbandszeitschrift „Ketteler-Wacht“, bis er 1939 kurz vor Entfesselung des II. Weltkrieges einberufen wurde. Durch Jakob Kaiser hatte er – wie die Verbandskollegen Nikolaus Groß und Prälat Otto Müller – Kontakt zu Widerstandskreisen. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden Letterhaus und Groß verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet; Otto Müller starb im Polizeigewahrsam. Auf der ersten Versammlung christlicher Politiker und Arbeiterführer nach Kriegsende am 17. Juni 1945 im Kölner Kolpinghaus gedachte man ihrer als Blutzeugen.
Aus der Enzyklika Quadragesimo anno, Nr. 79: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch nehmen zu wollen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“
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