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Jakob Kaiser

Karl Arnold

Helene Weber

6. Keine Stunde Null

Politischer Neuanfang aus christlichen Wurzeln

Die nationalsozialistische Herrschaft endete mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Das Deutsche Reich wird von den Alliierten besetzt und in vier Zonen aufgeteilt.

Die ersten Monate stehen im Zeichen der Vergeltung. Auf der Potsdamer Konferenz einigen sich die Siegermächte auf den Umgang mit Deutschland: alliierte Kontrolle der deutschen Verwaltung, Dezentralisierung der Wirtschaft, Entmilitarisierung und Entnazifizierung.

 

Kriegsfolgen

In Nürnberg wird ein Internationales Militärtribunal eingerichtet, das 22 Hauptkriegsverbrecher zur Rechenschaft zieht. Industrieanlagen werden demontiert, Kohle- und Stahlreviere ausgebeutet – zum einen als Reparationsleistungen, zum anderen mit dem Ziel der dauerhaften wirtschaftlichen und politischen Entmachtung Deutschlands.

Die Gewaltherrschaft Hitlers hatte Millionen Opfer gefordert: Juden, Sinti und Roma, Behinderte, politische Gegner wie Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen.

Im Zweiten Weltkrieg wurden rund 55 Millionen (Mio.) Menschenleben vernichtet, da­runter 20,6 Mio. Sowjetbürger, 4,25 Mio. Polen, rund 2,5 Mio. Bewohner des Balkan, hunderttausende Franzosen, Briten und Amerikaner. Sechs Mio. Juden waren umgebracht worden.

Deutschland hatte 5,25 Mio. Menschen verloren, 1,7 Mio. gerieten in Kriegsgefangenschaft. Die Mehrzahl der großen Städte war zerstört, ein Viertel des Reiches wurde unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt, fast zwölf Mio. Vertriebene strömten nach Mittel- und Westdeutschland.

40 Prozent der Bevölkerung bekamen als Witwen oder Waisen, Invalide, Ausgebombte, Flüchtlinge oder Heimatvertriebene die unmittelbaren Kriegsfolgen am eigenen Leib zu spüren.

Das wirtschaftliche, soziale und politische Leben war in einem katastrophalen Zustand: Wohnungsnot, Rationierung der Lebensmittel und Unterernährung, Zerstörung vieler Familien, Heimatlosigkeit, geistige Orientierungslosigkeit, Angst vor einer Zukunft unter Fremdherrschaft.

 

Christliche Werte

Die Suche nach einer gerechten und humanen Nachkriegsordnung begann nicht erst nach dem Zusammenbruch. Verschiedene Widerstandskreise hatten schon in den frühen 1940er Jahren über eine Neuordnung debattiert.

Der 1944 von den Nazis ermordete Nikolaus Groß wandte sich mit anderen katholischen Arbeiterführern und Gewerkschaftern des Ketteler-Hauses an die Dominikaner des Klosters Walberberg bei Köln, um Rat bezüglich der ethischen Grundlagen einer christlichen Staats- und Gesellschaftsordnung einzuholen.

Zur Kölner Gruppe gehörten neben Groß u.a. Karl Arnold (Kolpingmitglied), Johannes Albers (Kolpingmitglied, später Vorsitzender der Sozialausschüsse der CDU) und Andreas Hermes (ehem. Reichsminister).

Sie hatten Verbindung zu den katholischen Widerständlern aus Berlin Bernhard Letterhaus (mit Groß 1944 hingerichtet) und Jakob Kaiser (Kolpingmitglied, später Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen), ebenso zum sozialdemokratischen Gewerkschafter Wilhelm Leuschner (1944 hingerichtet) und zu Eugen Gerstenmaier (ev. Theologe, später Bundestagspräsident).

 

Gemeinschaft und Einzelmensch

Pater Eberhard Welty entwickelte in Diskussionen mit den Kölner Arbeiterführern ordnungstheoretische Leitlinien, die von der päpstlichen Soziallehre (u.a. „Quadragesimo anno“, 1931) geprägt waren. Der Westfale Welty (1902–1965) war schon jung Dozent für Ethik und Moraltheologie an der Ordenshochschule in Walberberg, parallel promovierte er an der Universität zu Köln mit der Arbeit „Gemeinschaft und Einzelmensch“ (1935).

Ihre Kernthese ist die organische Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen der Gemeinschaft. „Richtung- und maßgebend sind das Wohl und die Erfordernisse des Ganzen. Vom Ganzen her werden Stellung und Tätigkeit der Einzelnen bestimmt.“ Welty wandte sich gegen den Individualismus der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Selbst der christliche Solidarismus der von Heinrich Pesch geprägten Schule der Jesuiten (O. von Nell-Breuning, G. Gundlach) war ihm zu individualistisch.

Demgegenüber leiteten die Walberberger Dominikaner die Gemeinschaftsbezogenheit aus der Lehre des Thomas von Aquin ab. Mit dieser sozialphilosophischen Begründung konnten sie sich auch deutlich vom Nationalsozialismus wie vom marxistischen Kollektivismus abgrenzen.

Die Vorstellungen einer christlich-sozialen Neuordnung der Gesellschaft wurden nach Kriegsende unter dem Titel „Was nun“ gedruckt. Zusammen mit der Erweiterung von 1946, „Die Entscheidung in die Zukunft“ enthielt die Broschüre die wichtigsten sozialethischen Leitlinien der Christlich-Sozialen nach dem II. Weltkrieg.

 

Partei aus demKolpinghaus

Im Kölner Kolpinghaus trafen sich am 17. Juni 1945 christliche Gewerkschafter und ehemalige Zentrumspolitiker zur Gründung einer neuen Partei. Alle 18 Teilnehmer waren katholisch, die Hälfte waren Kolpingmitglieder, unter anderen Dr. Leo Schwering, Dr. Karl Zimmermann, Bernhard Günther und Clemens Hastrich.

Die Broschüre Weltys wurde allen ausgehändigt, um den wichtigsten Punkt der Tagesordnung, Programmatik und Ausrichtung der Partei, zu debattieren. Unabhängig von den Kölnern war schon tags zuvor in Berlin von Andreas Hermes und Jakob Kaiser die erste christlich-demokratische überkonfessionelle Partei gegründet worden. Eine Welle von derartigen Parteigründungen ging durch das Land. Die neue Partei hatte verschiedene Prägungen und war zumeist in der Zeit des Dritten Reichs konspirativ vorbereitet worden, Schwering sprach vom „Katakombengeist“.

 

Gegen Materialismus

Gemeinsam war allen die Ablehnung des Materialismus sowohl im Sinne des Kapitalismus als des Marxismus und der Wille, die neue Ordnung christlich zu begründen. Christlich hieß nicht mehr nur katholisch, sondern überkonfessionell, so wie es schon Julius Bachem 1906 („Wir müssen aus dem Turm heraus“) und Adam Stegerwald 1920 (Essen) gefordert hatten.

Die Gruppe der katholischen Arbeiterführer und Gewerkschafter verfocht im Einklang mit den Beratern aus dem Kloster Walberberg einen „christlichen Sozialismus“. Damit wurden die Ziele wie Bedarfsdeckungswirtschaft, genossenschaftliche Organisation, Mitbestimmung, Sozialisierung von Produktionsmitteln korrekt umrissen. Die „Kölner Leitsätze“ vom Juni 1945, das Programm der frisch gegründeten „Christlichen Demokraten Kölns“, und das „Ahlener Wirtschafts- und Sozialprogramm“ der CDU der britischen Zone vom Februar 1947 nahmen diese Ordnungsvorstellungen auf. Die christlichen Arbeiter meinten – wie manche katholische Intellektuelle – das konservativ-liberale Bürgertum und der Kapitalismus lägen in den letzten Zügen, manche lieb­äugelten gar mit der Idee einer „Labour Party“ bzw. einer nichtmarxistischen Arbeiter- und Bauernpartei.

Dies scheiterte jedoch an der weiterhin antikirchlichen Ausrichtung der großen Mehrheit der Sozialdemokraten, die selbstbewusst an ihrer traditionsreichen Partei anknüpften. Immerhin gelang 1947 die Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes als Einheitsgewerkschaft, in der sich alle weltanschaulichen Richtungen zugunsten der Arbeiterrechte zusammenfinden sollten. Die hierin angelegten Spannungen brachen allerdings zum Nachteil der kleineren Gruppe christlicher Ge­werkschafter immer wieder auf.

Karl Arnold (1901–1958), CDU-Gründer in Düsseldorf und der erste gewählte Ministerpräsident des neugebildeten Nordrhein-Westfalen, teilte die Befürchtung, dass angesichts der großen Not ohne Wirtschaftskontrolle die Gesellschaft in wenige Reiche und ein Heer von Proletariern gespalten würde.

Bei der schwierigen Bildung der ersten Großen Koalition in NRW 1947 mit SPD, Zentrum und Kommunisten konnte er sich gegen die Vorbehalte des zwar die katholische Sozialethik schätzenden, aber liberal-bürgerlichen Konrad Adenauers durchsetzen.

 

Christliche Union

Die zahlreichen Parteigruppierungen einigten sich Ende 1945 auf den gemeinsamen Namen „Christlich Demokratische Union Deutschlands“. Bleibende Ausnahme war die gleichfalls überkonfessionell ausgerichtete „Christlich Soziale Union“ Bayerns, zu deren Gründern in Würzburg Adam Stegerwald gehörte.

Die im Oktober 1945 in Soest/Westfalen neugegründete Deutsche Zentrumspartei hatte als überlebte Form der (praktisch überwiegend) ka­tholischen Partei keine Chance mehr. Nach anfänglichen regionalen Erfolgen verlor sie bis Ende der 1950er Jahre ihre Anhängerschaft.

Die Union praktizierte von Anfang an die Idee der Volkspartei. Neben dem starken Flügel der christlichen Ge­werkschafter fanden sich der politische Katholizismus bürgerlicher Herkunft, der eher deutsch-nationale Protestantismus sowie Teile des liberalen Bürgertums. Wie das alte Zentrum schichtenübergreifend die Katholiken an sich binden konnte, so gelang es den Unionsparteien, die Kräfte zu sammeln, die ungeachtet der Herkunft und Konfession nach christlichen Wertvorstellungen Politik betreiben wollten.

In der sowjetischen Zone hatte die christliche Partei keine Chance, die politische und wirtschaftliche Entwicklung zu beeinflussen. Sehr schnell waren die Vertreter des sozialen Katholizismus verfemt. Jakob Kaiser saß schließlich einer Exil-CDU vor, während die Ost-CDU sich mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung arrangierte.

Der ehemalige Zentrumspolitiker, Katholikentagspräsident und Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (1876–1967) hatte der Neugründung zunächst abwartend gegenübergestanden, ließ sich aber im September in den Vorstand der Christlichen Demokraten Kölns wählen. Nach einem knapp drei Monate währenden Verbot politischer Betätigung durch die britische Militärregierung begann Adenauer ab Dezember 1945 seine parteipolitische Karriere, stets bemüht, den Charakter der CDU als Volkspartei auszubauen. Dazu gehörte seine Ablehnung des „christlichen Sozialismus“ und die entsprechende Auseinandersetzung mit den katholischen Arbeiterführern Arnold, Albers und Kaiser.

Mit der von Ludwig Erhard (1897–1977) vorbereiteten Wäh­rungsreform, die ein maßgeblicher Teil der von den Westalliierten durchgesetzten Wirtschaftsreform war, begann ab Juni 1948 die Abkehr von planwirtschaftlichen und die Hinwendung zu marktwirtschaftlichen Ideen.

In den „Düsseldorfer Leitsätzen“ der CDU (1949) fand die Kombination von freiem Wirtschaften und sozialpolitischer Flankierung schließlich die Mehrheit der Partei. Adenauer gewann den parteilosen Erhard, dessen Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ die Spannung von Liberalismus und Gemeinwohlbindung in ein fruchtbares Gleichgewicht brachte. Die Kernforderungen der katholischen Sozialethik wie Solidarität, Subsidiarität, Überwindung der Klassengesellschaft durch „Wohlstand für alle“ fanden sich hier als tragende Säulen für die Lösung der sozialen Frage und für eine produktive Wirtschaftsordnung wieder.

 

Der katholische Beitrag

Der Verbände-Katholizismus, der fast 100 Jahre eine wesentliche Rolle gespielt hatte, zog sich in den vorpolitischen Raum zurück. Der Wiederaufbau des kirchlichen Lebens war stark an die Pfarrei und Diözese gebunden und entsprach so eher dem Bedürfnis der Orientierungssuche und des innerlichen Glaubenslebens.

Die neuen christlichen Parteien verschufen sich einen eigenen Unterbau, zumal sie sich auf einen konfessionellen Beistand – wie durch den „Volksverein für das katholische Deutschland“ – nicht mehr hätten stützen können. Gleichwohl waren kirchlich gebundene Kreise bis Anfang der 1970er Jahre eine verlässliche Wählerschaft der Unionsparteien.

Der politische Katholizismus, der sich nach 1945 vorzugsweise in der CDU/CSU sammelte, konnte seine christlichen Wertvorstellungen auf innen- und außenpolitischem Gebiet fruchtbar machen. Der Parlamentarische Rat unter Vorsitz Adenauers verabschiedete am 8. Mai 1949 in Bonn ein Grundgesetz, in dem viele Forderungen der Kirche verwirklicht wurden.

Die Aussöhnung mit den europäischen Nachbarn sowie mit Israel basierte auf dem christlichen Schuldverständnis und Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft. Der soziale Katholizismus schlug sich nicht nur in dem Beharren auf eine theoretische Sozialbindung des Kapitals nieder, sondern in einer Reihe maßgeblicher Gesetze von Kriegsopferversorgung, Lastenausgleich für Heimatvertriebene und die so genannte dynamische Rente über Montanmitbestimmung, Betriebsverfassung, Kündigungsschutz, Mutterschutz, Kindergeld usw.

Auf anderen Feldern erwies sich der katholische Standpunkt als eher hinderlich: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau gehörte zwar zum Grundrechtskatalog, die Durch­setzung in einfaches Recht kostete allerdings viel Energie.

Während Helene Weber noch die klassische Unterordnung der Frau unter das männliche Oberhaupt der Familie akzeptierte, ging die nächste Generation doch weiter. Mit Vehemenz vertrat Aenne Brauksiepe (1912–1997) ein partnerschaftliches Verständnis, denn „die Last der Geschichte ist Männern und Frauen gleichermaßen auferlegt“. Sie selbst war Mitgründerin der CDU in Duisburg, nachdem sie als Erzieherin behinderter Kinder und engagiert in der katholischen Frauenbewegung praktische soziale Arbeit geleistet hatte. In ihrer 24 Jahre währenden Arbeit als Bundestagsabgeordnete widmete sie sich vor allem den Belangen der Jugend, der Familie und der Frauen, denen die Gestaltung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ermöglicht werden sollte.

Fast zwei Jahrzehnte lang wurde die christlich-demokratische und soziale Politik von der Mehrheit der Bürger bestätigt. Die neue Sammlungspartei der christlichen Kräfte hatte den Nerv der Nachkriegszeit getroffen, die wirtschaftliche sowie innen- und außenpolitische Bilanz waren anerkannt. Die Erfolgskurve begann zu bröckeln, als der patriarchalische Stil der „Kanzlerdemokratie“ sich überlebte.

Die SPD schloss mit ihrer Vergangenheit als Klassenpartei ab und schlug mit dem „Godesberger Programm“ 1959 das Kapitel der Volkspartei auf. Die katholische Kirche öffnete sich nach gut 15 Jahren demokratischer Nachkriegsordnung der pluralistischen Welt. Papst Johannes XXIII. gab der Eigenverantwortung der Katholiken mehr Raum denn je. Der politische und soziale Katholizismus trat in eine neue Phase.

Sozialbewegung – Teil 1

Sozialbewegung – Teil 2

Sozialbewegung – Teil 3

Sozialbewegung – Teil 6

Sozialbewegung – Teil 4

Sozialbewegung – Teil 5

BR-Begleitmaterial

Das Bayerische Fernsehen hat den Dokumentarfilm „Kolping“ gesendet und dazu Begleitmaterial herausgegeben, auch für den Schulunterricht.

Hier zu den Begleittexten

Was würde Kolping heute tun?

Was würde Adolph Kolping heute – 200 Jahre nach seiner Geburt – in meiner Stadt tun? – Einige Gedankenanstöße.

Hier zum Beitrag

Kolping – der Publizist

Adolph Kolping war nicht nur Gesellenvater, Sozialreformer, Pädagoge und Pionier der Erwachsenenbildung, sondern zugleich auch einer der erfolgreichsten katholischen Publizisten.

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