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Was würde Adolph Kolping heute in meiner Stadt tun?

Was würde Adolph Kolping heute in meiner Stadt tun? – Eine provokante Frage: Ich habe grundsätzlich Probleme damit, wenn einzelne Menschen genau wissen, was diese oder jene vergangene Persönlichkeit heute tun würde. Das kann leicht anmaßend wirken.

Auf der anderen Seite: Welche Frage ist für eine Kolpingsfamilie heute – 200 Jahre nach der Geburt A. Kolpings – wichtiger als genau diese: Was würde Adolph Kolping heute in meiner Stadt tun? Dürfen oder wollen wir diese Frage überhaupt ignorieren? Dazu einige Gedankenanstöße:

 

Deshalb möchte ich diese Fragen aufwerfen und soweit wie möglich beantworten:

1. Wer war Adolph Kolping?

2. Was hat ihn angetrieben?

3. Was ist sein Lebenswerk? Nach welchen Grundsätzen hat er es aufgebaut?

4. Welche Herausforderungen stellen sich heute?

5. Was können wir daraus ableiten?

 

1. Wer war Adolph Kolping?

Adolph Kolping wurde am 8.12.1813 in Kerpen geboren und starb am 4.12.1865 im Alter von knapp 52 Jahren in Köln.

 

Heute wissen wir:

Er war ein Sozialreformer der ersten Stunde,
ein volksnaher Seelsorger,
ein erfolgreicher Publizist
und Wegbereiter der katholischen Sozialbewegung.
Er sorgte sich um die heimatlosen Handwerker und Arbeiter in Not.
Sein Gesellenverein war die Keimzelle einer weltweiten Bewegung.

Adolph Kolping kannte das geistige und soziale Elend der Arbeiter und Handwerker. Aus einfachsten Verhältnissen stammend blieb ihm der Besuch der höheren Schule verwehrt. Schon im Alter von 13 Jahren begann er eine Lehre als Schuhmacher, bald zog er wie andere Gesellen von Ort zu Ort.

Was er in dieser freudlosen und entbehrungsreichen Zeit erlebte, prägte ihn zutiefst: Handwerksgesellen ohne Moral und Anstand erschütterten sein Menschenbild. „Schätze sich jeder glücklich, der nie so etwas sah und hörte, der nie mit solchen Menschen in Berührung kommt“, schrieb er angeekelt, „unter dieser Volkshefe konnte ich nicht sitzen bleiben, nicht mein ganzes Leben verkümmern lassen.“

Der 22-Jährige beschloss, Priester zu werden. Er besuchte gemeinsam mit rund zehn Jahre jüngeren Schülern das Kölner Marzellengymnasium und legte die Reifeprüfung ab. Kolping begann anschließend ein Theologiestudium in München und Bonn.

Als Kaplan wurde er in die Industriestadt Elberfeld im Wuppertal geschickt. Dort fand er mit Entsetzen genau das Milieu wieder, dem er entronnen zu sein glaubte. Die materielle und geistige Not der „arbeitenden Klasse“ ließen ihn jedoch nicht unberührt: „Vernachlässigt an Leib und Seele, elend durch und durch“ – so beschrieb er die Menschen. Als er dem Gründer des katholischen Elberfelder Gesellenvereins Johann Georg Breuer begegnete, änderte sich seine ablehnende Haltung gegenüber Arbeitern und Gesellen grundlegend. „... der Handwerksstand, endlich der Arbeiterstand überhaupt, ist im Grunde besser, als man gewöhnlich glaubt.“ Die Arbeiter seien zu Sklaven der Fabriken verkommen. Das große Kapital lasse sie „kaum am Leben nippen“. Solche Sätze hätten von Karl Marx stammen können, der zur selben Zeit mit Friedrich Engels in Elberfeld und Köln Tausende von Anhängern um sich scharte.

Kolpings Engagement richtete sich fortan gegen die zunehmende Verelendung der Arbeiter. Mit großem analytischen Verstand erkannte er die Bedeutung der Arbeiter- und Gesellenschicht: Ohne gesunde Arbeiterklasse kein Wohlstand des Bürgertums. 1849 zum Domvikar in Köln berufen, gründete Kolping den zweiten Katholischen Gesellenverein – in der Domstadt. Er reise in Deutschland und angrenzenden Teilen Europas herum, sprach auf Katholikentagen und verbreitete die Idee in Wort und Schrift.

Er gründete mit den Gesellenvereinen Zentren für Wohnen, Geselligkeit und Weiterbildung.

Verein und Hospiz sollten ersetzen, was den jungen Leuten auf dem Weg zum „tüchtigen Bürger“ fehlte: ein Familienleben. Die Gesellen, die er aufnahm, gehörten zur Schicht des Proletariats: verarmte, herumstreunende Handwerker, die keiner haben wollte.

Im Gesellenhospiz, heute „Kolpinghaus“, fanden sie eine Heimat. Dort wurde gemeinschaftlich gelernt, gebetet und gefeiert. Der Sozialreformer holte Tausende von jungen verwahrlosten Männer von der Straße und eröffnete ihnen die Chance auf ein geordnetes Leben. Sein Ziel war, tüchtige Christen und Bürger aus ihnen zu machen.

Aus eigener Erfahrung wusste Kolping, wie wichtig es war, über die direkte Lebenshilfe hinaus auch eine berufliche Weiterbildung zu ermöglichen. Hilfe zur Selbsthilfe war sein Motto, Eigenverantwortung und Solidarität die Grundprinzipien der Gemeinschaft. Ein solches Denken war im 19. Jahrhundert revolutionär und nicht nur für die Kirche richtungsweisend.

Der Gesellenverein finanzierte sich durch Spenden und durch die Einnahmen, die Kolping als erfolgreicher Publizist einbrachte. Beseelt von seiner Idee, den Menschen aus der Not zu helfen, reiste der Seelsorger unermüdlich durch Europa, hielt Vorträge und sorgte für die Ausbreitung der Katholischen Gesellenvereine, der späteren „Kolpingsfamilien“. Als er 1865 starb, gab es in Europa und Nordamerika über 220 Vereine mit schätzungsweise 60.000 Mitgliedern. Sein Werk war für die katholische Kirche ein wichtiger Impuls, sich der Sozialen Frage zu widmen. Papst Leo XIII. ließ sich 1891 in seiner Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ von Kolpings Ideen inspirieren. Genau hundert Jahre später sprach Johannes Paul II. den Sozialreformer A. Kolping in Rom selig und erinnerte dabei daran, dass Adolph Kolping ein Wegbereiter der Katholischen Soziallehre war.

 

2. Was hat ihn angetrieben?

Adolph Kolping war ein tief gläubiger Mensch. Was ihn auszeichnete, war seine Verbindung von Gottes- und Menschenliebe und die Verbindung von Glaube und Leben.

Kolping glaubte an die Menschen. Er schrieb niemanden ab. Er wusste: Ein Mensch, der im Leben scheitert, ist meist in seinem Innersten verletzt. Wer sich abgelehnt und ausgegrenzt fühlt, wird es nicht schaffen, ein nützlicher Teil der Gesellschaft zu werden. Der Mensch muss sich zuerst geliebt und angenommen fühlen. Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft, in der sich jeder angenommen fühlt, in der sich das Urvertrauen des Menschen entwickelt, wurde zum Leitbild der Gesellenvereine. Noch heute sprechen wir von der Kolpingsfamilie als „familienhafte Gemeinschaft“.

Christlicher Glaube kann oberflächlich, angeberisch, pharisäerhaft oder frömmelnd werden. Glaube kann missbraucht werden. Kolping hat strikt darauf geachtet, dass Glaube und Leben eine Einheit bilden. Glaube muss für ihn authentisch sein.

Diese Linie hat Kolping mit klarem Kurs strikt durchgehalten. Deshalb ist er in viele Konflikte geraten – mit den Behörden, mit Menschen anderer Meinung, auch mit der kirchlichen Obrigkeit. Die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern um den Menschen zu dienen.

Eine Sichtweise, die heute modern und aktuell erscheint. Wenn Gott nicht vom hohen Thron auf die Menschen schaut, sondern mit der Geburt in einem ärmlichen Stall einer von uns wird, dann muss sich dies auswirken auf unsere Art, zu glauben und zu leben.

Kein Zweifel: Adolph Kolping war ein sehr gläubiger Mensch. Glaube und Leben bilden für ihn eine Einheit. Wer den Menschen den Glauben raubt, zerstört die Fundamente des Herzens im Menschen und die Werte-Fundamente, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Ohne Jesus Christus kein Kolping.

 

3. Was ist sein Lebenswerk? Nach welchen Grundsätzen hat er es aufgebaut?

Kolping war in vielem Pionier:

Im Jahr 1848 wurde in Deutschland die Vereinsfreiheit teilweise verwirklicht. Die Gründungen des kath. Gesellenvereins 1847 in Elberfeld und ab 1849 hundertfach auf das Wirken Kolpings hin zeigen, wie sich Katholiken der neuen Freiheiten bedienen. Freiheit bietet Chancen. Kolping hat sich nicht vor Freiheit gefürchtet, sondern deren Möglichkeiten so schnell wie kaum ein anderer genutzt.

Als Publizist, der mehrere Periodika gründete, darunter eine der erfolgreichsten katholischen Wochenzeitschriften des 19. Jahrhunderts, hat er furchtlos Neuland betreten. Das war kein Selbstzweck, sondern Instrument der Pädagogik, das Menschen zum Guten hinführen sollte, und Instrument der Öffentlichkeitsarbeit. Schon als junger Mann schrieb Kolping in sein Tagebuch: Entweder wirkt ein Mensch als Giftpflanze oder als Heilkraut. Keine Frage: Er wollte Heilkraut sein. Und sein jahrelanges, mühevolles Arbeiten an den katholischen Wochenblättern, das ihn oft an die Grenzen der Belastbarkeit brachte, war so motiviert. Zuerst war er Redakteur und Chefredakteur beim „Rheinischen Kirchenblatt“, also bei einer kirchlichen Zeitung. Dann gründete er die „Rheinischen Volksblätter“, die zwar mit Beiträgen zur religiösen Bildung und christlichen Lebensorientierung gefüllt waren – aber ansprechend für jedermann.

Kolping hat soziale Einrichtungen geschaffen, ein soziales Netzwerk – lange, bevor sich der Staat dieser Aufgaben annahm: Unterkünfte für wandernde Gesellen, Krankenkassen, Sparkassen, Arbeitsvermittlung, Bildungsmöglichkeiten.

Kolping war ein Wegbereiter der Katholischen Soziallehre. Papst Johannes Paul II. hat am 27. Oktober 1991 auf dem Petersplatz gesagt: „Die Seligsprechung Adolph Kolpings im Jahr, in dem wir den hundertsten Jahrestag der Enzyklika „Rerum novarum“ feiern, ist ein besonders beredtes Zeichen.“

Kolping war ein Wegbereiter der Erwachsenenbildung, die er systematisch und als Kernelement der Vereine betrieben hat. „Lebenslanges Lernen“ war damals keineswegs so selbstverständlich wie hoffentlich heute.

Gesellenvereine waren Instrumente der gegenseitigen Hilfe. Indem sich Betroffene zusammenschließen, werden sie fähig, sozialer Not wirksam zu begegnen. Daraus ist eine weltweite Sozialbewegung entstanden.

Karl Marx, sein Zeitgenosse, hat erklärt, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretieren, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Er hat zum gesellschaftlichen Umsturz, zur Revolution aufgefordert. Kolping hatte andere Ansätze:

Die Gesinnungsreform, wonach es darauf ankommt, zuerst sich selbst zu verändern.

Die Selbst- und Gemeinschaftshilfe und der Aufbau entsprechender Strukturen.

 

„Deiner Bestimmung gedenke, mein Christ, wer du auch immer sein magst. Halte deshalb eine Weile inne auf deinem breit getretenen Lebenswege. Deiner Bestimmung gedenke, blicke vorwärts, wohin du strebst, schau zurück, woher du kommst, dich selber betrachte, was ist's mit dir, was bist du, was sollst du, was willst du?...

Halte ein, mein Christ, stehe eine Weile stille, lass das bewegte Leben einmal an dir vorübergehen, damit dein Herz ruhiger werde und dein Verstand zu ernsterem Nachdenken sich anschicke.“

Adolph Kolping

 

 

„Sei ein tüchtiger Bürger, ein tüchtiger Christ, ein tüchtiger Familienvater; leiste Tüchtiges in deinem Beruf!“

Adolph Kolping

 

 

Bei der Familie fängt die Heilung an und muss sie anfangen, weil die Familie die Wiege der Menschheit ist, weil die Familie die erste Erzieherin der Menschheit ist. Es gibt kein Glück, irdisch genommen, was im Grunde das wahre Familienglück aufwiegt.

Adolph Kolping

 

 

Im 19. Jahrhundert blühte das Genossenschaftsdenken auf. Im gleichen Jahr, als Kolping den Kölner Gesellenverein gründete, gründete Hermann Schulze-Deitzsch in Ostdeutschland eine Genossenschaft als juristische Rechtsform. Er gründete Spar- und Kreditvereine, aus denen die heutigen Volksbanken hervorgingen. Ein weiterer Zeitgenosse Kolpings war Friedrich-Wilhelm Raiffeisen, der 1818 in Hamm an der Sieg geborgen wurde und 1888 in Neuwied starb. Er war u.a. Bürgermeister in Weyerbusch und Flammersfeld. Auch Raiffeisen war ein Pionier des Genossenschaftsdenkens.

Kolping dachte ähnlich. Hilfe zur Selbsthilfe ist bis heute das Erfolgsprinzip des Verbandes. Kolping wusste, dass er nicht jedem helfen konnte. Er wollte die Willigen um sich versammeln, die aus ihrem Leben etwas machen wollten. Er weckte in ihnen unerwartete Kräfte. Er gründete Bürgschafts- und Kreditgenossenschaften sowie Krankenkassen. Hätte der Nationalsozialismus es nicht verhindert, wäre wir heute wahrscheinlich noch bei einer Kolping-Krankenkasse versichert. In der Schweiz gibt es sie tatsächlich bis heute.

Mit den Fachabteilungen zur beruflichen Fort- und Weiterbildung ging aus den von Kolping grundgelegten Anfängen eine gewaltige Erfolgsstory hervor: In einer Zeit, in der es noch keine duale Berufsausbildung gab, lernten die Gesellen und Meister im Kath. Gesellenverein mehr als andere, sich zu qualifizieren und beruflich erfolgreich zu sein.

 

„Wenn ein einzelner Mensch durch ein reißendes Wasser waten will, wird er‘s nicht vermögen; greifen sich aber mehrere unter die Arme und bilden eine geschlossene Reihe, werden zusammen sie das tobende Element überwinden. Vereinigung macht stark, eine praktische Wahrheit, so alt wie die Welt.“

Adolph Kolping

 

Bildung ist ein zentrales Element bei Kolping: berufliche, religiöse, soziale und staatsbürgerliche Bildung.

Kolping war am Menschen interessiert, besonders an dem, der in Not ist und mit dem etwas anzufangen ist. Das waren zu seiner Zeit die jungen Handwerksgesellen, die aufgrund der industriellen Revolution und der wirtschaftlichen Liberalisierung ihren Halt, ihre Anbindung an die Familie des Handwerksmeisters verloren hatten. Es waren männliche Jugendliche und junge Erwachsene.

 

4. Welche Herausforderungen stellen sich heute?

Nun möchte ich einen Schnitt machen. Wir blenden um vom 19. ins 21. Jahrhundert. Welches sind heute die Menschen, die in Not geraten sind? In unserer Gesellschaft und darüber hinaus?

Es gibt viele in Not, denn Not ist vielfältig. Es gibt Menschen in materieller Not und solche in immaterieller Not.

Menschen, die am häufigsten von Armut bedroht sind, sind Alleinerziehende mit ihren Kindern. Ihre Not ist nicht einseitig materieller Art, denn meist ging eine Scheidung voraus. Hier hängen beide Formen heutiger Not zusammen. In neun von zehn Fällen sind Alleinerziehende weiblich. Dem Statistischen Bundesamt zufolge sind alleinerziehende Mütter zu 60·% berufstätig, alleinerziehende Väter zu 72·%. Dabei sind Kinder, die bei ihren Vätern leben, im Durchschnitt älter als diejenigen, die bei alleinerziehenden Müttern leben. Die Mütter, die erwerbstätig sind, arbeiten zur Hälfte in Vollzeit.

Statistiken zufolge sind Alleinerziehende die Bevölkerungsgruppe, die am stärksten vom Armutsrisiko betroffen ist. Geschätzt wird ihre Zahl auf 1,6 Mio., sie ist steigend. Jedes 5. Kind lebt in einer unvollständigen Familie.

660.000 Alleinerziehende mit 1 Million Kinder leben von Hartz IV – fast jeder 2. von allen Hartz IV-Haushalten.

Alleinerziehende, meist mit einem minderjährigen Kind, aber ohne Partner bzw. Partnerin, gelten als belastet: Alleinerziehende Mütter sind nicht nur durch finanzielle Probleme, sondern auch durch Zukunftsängste, Überforderung und durch ein geringes Selbstwertgefühl stärker belastet als verheiratete Mütter. Wen wundert das?

Die meisten Alleinerziehenden in Deutschland sind geschieden: rund 59 Prozent. 35 Prozent sind ledig, rund sechs Prozent verwitwet.

Wenn wir heute danach fragen, was Adolph Kolping heute an diesem Ort tun würde, so geht die erste Frage in Richtung Zielgruppe. Würde er sich – wie damals – auf männliche Jugendliche und junge Erwachsene beschränken?

Auch heute gibt es die jungen Menschen, die Mühe haben, einen Schulabschluss zu machen und dann Tritt zu fassen in der Arbeitswelt. Oft werden sie in belasteten Familien groß oder mussten ihre Heimat verlassen.

Wenn Kolping der Familie die zentrale Aufgabe beimisst, irdisches Glück zu finden und sich als Mensch zu entwickeln, würde er heute die Gruppe der Alleinerziehenden ignorieren, die es damals noch nicht gab?

Aber nicht nur Alleinerziehende sind belastet, sondern häufig auch vollständige junge Familien. In unserer fortschreitend kinderentwöhnten Gesellschaft wird die Betreuung und Erziehung von Kindern nicht mehr automatisch miterlebt. Junge Frauen und Männer erleben immer seltener praktisch mit, wie Kinder in der Großfamilie aufwachsen. Der richtige Umgang mit ihnen wird nicht mehr selbstverständlich miterlebt. Daraus resultiert nicht selten Hilflosigkeit. Vielleicht auch ein Grund, warum immer mehr junge Eltern ihre Kinder nicht nur selbst erziehen wollen, sondern sie früh in öffentliche Einrichtungen geben. Ein geborgenes Familienleben, wie es Kolping aus eigener Erfahrung zu schätzen wusste, kann nur derjenige vermitteln, der es selbst kennt.

Kolping war es ein Anliegen, die jungen Männer auf die Ehe vorzubereiten und die Partnerin nicht nach oberflächlichen Gesichtspunkten zu suchen. Heute fällt es vielen Menschen im ehefähigen Alter schwer, überhaupt einen Partner zu finden. Es gibt viele Unsicherheiten, sich zu binden.

Das liegt auch an der beruflichen Situation. Mobil mussten die Menschen schon immer sein. Es gab zB Auswanderungswellen aus dem Westerwald nach Amerika, weil es hier Hungerperioden gab. Aber dennoch war die berufliche Mobilität und Flexibilität noch nie so gefordert wie heute. Wer kann heute noch da wohnen, wo er aufgewachsen ist? Wo seine Eltern, Geschwister und Jugendfreunde wohnen? Die berufliche Wanderschaft hat eine Wiedergeburt erfahren!

Wir leben heute in einer Welt, die vernetzt ist wie nie. Unsere Obst, Gemüse, sogar unsere Blumen kommen aus allen Teilen der Welt; natürlich auch unsere Autos, Handys und Computer. Wir schöpfen daraus reichen Wohlstand, sind Exportweltmeister. Wir müssen darauf achten, ob dieser Wohlstand fair erwirtschaftet wird. Und als Christen wollen wir teilen mit unseren Schwestern und Brüdern in aller Welt und Ursachen für Armut beseitigen.

Heute fällt es den Menschen schwerer zu glauben. Die Konkurrenz der Weltanschauungen, der Angebote und der Ablenkung war noch nie so groß.

Aber Kolping meint:

„Nehmt die Religion aus dem Familienleben und ihr versetzt ihm den Todesstoß. …

Die Religion ist der Kern, das Mark von allem menschlichen Tun, und davon absehen wollen, ist Torheit oder Schlechtigkeit. …

Die Religion erzeugt mit der Ruhe, die sie dem Menschen gewährt, zugleich ein zufriedenes Gefühl, eine Heiterkeit, die sich wohl mit dem ihr eigenen Ernste verträgt. …

Ja, die Religion ist Fundament im Menschen, ist das Fundament im Hause, im Volke, im Staate, in der ganzen sittlichen Welt. …“

 

5. Was können wir daraus ableiten?

Es gibt heute viel zu tun. Als Kolpingsfamilie werden wir uns nicht um alles kümmern können, was wir gerne anpacken würden.

Einiges tun wir bereits: Wir verkaufen z.B. fair gehandelte Produkte, tragen mit Bildungsangeboten zum lebenslangen Lernen bei, machen Angebote für Familien, und mit einem Familienhilfsfonds helfen wir außerhalb der eigenen Reihen, dass benachteiligte Kinder bessere Bildungschancen erhalten. Und wir spenden für Projekte in der Einen Welt.

Dennoch stellt sich die Frage: Was würde Adolph Kolping heute hier tun? Wir wissen: Wenn er hier in der Versammlung anwesend wäre, er würde eine flammende Rede halten und uns begeistern, noch mehr zu tun.

Warum? Kolping hat selbst „gebrannt“. Er war als Christ tief überzeugt, dass der Mitmensch ein Bruder und eine Schwester ist. Dass es keinen wichtigeren Auftrag gilt als den: den Menschen bewusst zu machen, dass sie vom lebendigen Gott angenommen und geliebt sind. Liebe aber bleibt nie bei sich selbst stehen, sondern will weitergeben. Jesus Christus hat es vorgemacht.

Wollen und können wir das heute auch? Liebe verschenken? Haben wir genug übrig, um es weiterzugeben?

Kolping war ein Beter. Er ging in die Stille, um sich Gott zuzuwenden und sich dieser Liebe immer wieder zu vergewissern.

Kennen und genießen wir heute diesen Glauben, dass Gott für uns sorgt und wir keine Angst haben müssen, dass wir selbst zu kurz kommen, wenn wir lieben?

Nur wenn wir für andere Menschen „brennen“ können und wollen, können wir mehr tun als bisher.

Kolping war dem zuvor verabscheuten, verkommenen Gesellenstand entronnen. Er stand als Priester vor einer akademischen Laufbahn. Seine Liebe für Notleidende entdeckte er in Elberfeld neu. Sie wurde so groß, dass er sich anders entscheiden und sich hingeben konnte. So fand er die Kraft, sich den Menschen zuzuwenden, von denen sich die allermeisten anderen Mitmenschen abgestoßen fühlten.

Wollen und können wir das heute auch?

Wo sehen wir gemeinsame Möglichkeiten, anzupacken und den Notleidenden von heute zu begegnen?

Welche Aufgaben sind geeignet, dass wir auf andere Menschen zugehen können und überzeugend sagen: Du, wir brauchen Dich, Du kannst uns bei dieser wichtigen Aufgabe helfen?

 

Martin Grünewald

Manuskript für einen Vortrag bei der Kolpingsfamilie Hennef am 20. Februar 2013

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