Die junge Bundesrepublik Deutschland war nach fünfzehn Jahren als sozialer und demokratischer Rechtsstaat fest in der westlichen Wertegemeinschaft verankert. Der Wiederaufbau war durch grundlegende politische Entscheidungen der ersten Jahre und durch Fleiß und Gemeinsinn der Bevölkerung rascher gelungen als je erhofft werden konnte.
Maßgeblichen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg wie an der politischen Stabilisierung hatten der „Marshallplan“, aber auch die Nothilfen der US-Amerikaner und anderer Länder. Im sowjetisch besetzten Teil des Landes wurde hingegen mit Enteignung und Kollektivierung der planwirtschaftliche Weg erzwungen. Die Welle von Flüchtlingen wurde durch den Bau der Berliner Mauer und entsprechende Sicherungen der Zonengrenze 1961 gestoppt. Die Amerikaner zogen mit Panzern in der Berliner Westzone auf, beließen es aber aus Sorge vor einem Kriegsausbruch bei der Drohgebärde.
Die Katholiken in Westdeutschland fanden sich erstmals seit der Säkularisation von 1803 als gleichberechtigte Bürger ihres Staates wieder. Sie stellten führende Politiker und konnten mit ihren sozialethischen Überzeugungen über die eigene konfessionelle Gemeinschaft hinweg politische Mehrheiten gewinnen.
Damit löste sich zugleich der 150-jährige Druck, der eine Minderheit zu besonderer Einheit zusammenschweißt. Hatte es auch früher heftige Auseinandersetzungen um den „wahren“ katholischen Standpunkt gegeben, so war das Bewusstsein des katholischen Milieus davon unberührt geblieben.
War dieses Milieu Anfang der 1960er Jahre noch relativ stabil, so löste es sich im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte auf. Die Pluralisierung, die Vielfalt gesellschaftlicher, politischer und weltanschaulicher Überzeugungen, breitete sich im säkularen wie im kirchlichen Leben aus.
Aggiornamento
Im Januar 1959, kurz nach seiner Erhebung zum Papst, kündigte Johannes XXIII. ein Konzil an. Die Botschaft der Kirche sollte in die Sprache und die Erfahrungswelt des modernen Menschen, in das Hier und Heute übersetzt werden. Die Perspektive wechselte von einem eher statischen zu einem mehr dynamischen Verständnis von Kirche und griff damit eine allgemeine Bewegung des (westlichen) Lebensgefühls auf.
Technischer Fortschritt, internationale wirtschaftliche Verflechtungen und demokratische Entscheidungsverfahren änderten das Bewusstsein der Bürger und Gläubigen.
Die soziale Frage sprengte die nationalen Grenzen und erstreckte sich auf die Entwicklungsländer, die teilweise noch bis in die 1960er und 1970er Jahre als Kolonialländer unter Fremdherrschaft standen. Entwicklungsarbeit wurde als sozialethische Pflicht ausgerufen.
In seiner ersten Sozialenzyklika „Mater et Magistra“ (1959) schlug Johannes XXIII. bereits den neuen Ton an. Der abstrakte Ordnungsbegriff „Gemeinwohl“, sofern er sich auf eine formelhafte organische Einheit und ebensolche Definitionen der neuscholastischen Sozialdoktrin stützte, trat zurück und schob das „gesellschaftliche Leben“ in seinen konkreten Bezügen und seiner Vielgestaltigkeit nach vorne.
Es sei Aufgabe des Christen, dieses Leben, wie es ist, in Übereinstimmung mit der Lehre Jesu Christi zu gestalten. Der Kernsatz, der später im Konzilsdokument „Gaudium et spes“ wiederholt wird, lautet: „Der Mensch ist Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen.“
Die „relative Autonomie der Kultursachgebiete“ zieht die Verantwortung des Gewissens des einzelnen nach sich – selbstverständlich ist das gebildete, sich an den kirchlichen Maximen orientierende Gewissen gemeint.
Die Sachgesetzmäßigkeit wirtschaftlicher Regeln hatte schon Pius XI. in „Quadragesimo anno“ eingeräumt. Aus der Erkenntnis der Eigengesetzlichkeit weltlicher Abläufe wird nun in „Gaudium et spes“, im Kapitel über das Apostolat der Laien, die Rolle des Laien als Fachmann für politische, soziale, wissenschaftliche und technische Fragen, einschließlich deren internationaler Dimension, gewürdigt.
Der Person, die das Richtige erkennen und tun, aber auch irren kann, werden nunmehr individuelle Menschenrechte zuerkannt. Nicht mehr der katholische Glaubensstaat ist das Ideal, vielmehr werden die Staaten aufgefordert, Glaubens- und Meinungsfreiheit zu garantieren sowie Teilhaberechte zu gewährleisten. Die Religionsfreiheit wird als Grundlage der Mission wie auch des friedlichen Nebeneinanders der Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkannt.
Gerechtigkeit und Frieden
In der Kommission zum Laienapostolat saß Franz Hengsbach (1910-1991), der erste Bischof von Essen. Er war als Reformer im Zentralkomitee der deutschen Katholiken hervorgetreten, der nicht nur die alten eigenständigen Verbände, sondern vor allem die Laien der pfarrlichen und diözesanen Ebene einbinden wollte.
Der Bauernsohn aus dem Sauerland hatte seine erste Stelle während der Naziherrschaft in einer Bergarbeitersiedlung im Ruhrgebiet versehen, wo er sich der Katholischen Arbeiterbewegung anschloss. Zudem widmete er sich der Seelsorge eingewanderter, später auch zwangsrekrutierter Polen.
Auf dieser Erfahrung gründete sich sein späterer Einsatz für die deutsch-polnische Aussöhnung. Nach dem Krieg propagierte er die Sozialpartnerschaft von Arbeitern und Unternehmern als Forderung der katholischen Soziallehre. Mitte der 1960er Jahre, als die ersten großen Zechen geschlossen wurden, stellte er sich schützend vor die Arbeiter.
Sie sollten nicht die Hauptlast der Umstrukturierungen tragen müssen. Immer wieder initiierte er Gespräche mit Unternehmern, Arbeitnehmervertretern und Politikern aller Parteien. Mit der evangelischen Kirche schloss er sich zwecks Sozialarbeit zusammen. Bei aller Ortsverbundenheit schaute er über den Ruhrpott hinaus und gründete mit „Adveniat“ die neben „Misereor“ erfolgreichste Spendenaktionen für die Entwicklungsarbeit – ganz im Sinne Johannes’ XXIII. und Pauls VI.
Die Freiheit des Nestors
Als das II. Vatikanische Konzil 1965 von Paul VI. feierlich beendet wurde und statt eines verbindlichen Sozialkatechismus die Verantwortung der Laien in den Kultursachgebieten verkündet wurde, kommentierte Oswald von Nell-Breuning: „Pluralistische Gesellschaft und pluralistischer Staat sind hier einfach als Tatsache vorausgesetzt…“.
Daraus ergebe sich die Unterscheidung zwischen dem Handeln der Katholiken „im eigenen Namen als von ihrem Gewissen geleitete Staatsbürger“ und dem Handeln „im Verbund mit ihren Hirten im Namen der Kirche“.
Ersteres wurde im deutschen Sprachgebrauch dem politischen und sozialen Katholizismus zugeordnet. Die neue Soziallehre billigte damit die Vielzahl möglicher Auffassungen im sozialen und politischen Bereich und damit auch die Wahl des politischen Standorts.
Oswald von Nell-Breuning (1890-1991), wie Karl Marx in Trier geboren, stieß bereits während seiner Studentenzeit auf die Soziale Frage. Mit 21 Jahren trat er in den damals verbotenen Jesuiten-Orden ein und hielt sich bis zur Aufhebung des Verbots zumeist in den Niederlanden auf.
Nach seiner Promotion 1928 ging er als Professor für Moraltheologie und Gesellschaftswissenschaften an die Ordenshochschule Sankt Georgen bei Frankfurt. Die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ Pius’ XI. (1931), die er gemeinsam mit seinem Ordensbruder Gustav Gundlach entworfen hatte, konnte unter der Herrschaft der Nazis nicht wirksam werden.
Nach dem Krieg engagierte er sich in zahlreichen katholischen Vereinen, in Arbeitnehmerorganisationen, in Wirtschaftsverbänden sowie im Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Sein wichtigstes Ziel war es, die Marktwirtschaft mittels einer „leistungsgemeinschaftlichen Ordnung“ zu kanalisieren.
Mit Leidenschaft forderte er die Gleichberechtigung und Teilhabe der Arbeiter. In seinem Beitrag zum heftig umkämpften Thema „Kirche und Arbeiterschaft“ auf der Würzburger Synode (1975) zitierte er Pius XI., es sei ein „Skandal“, dass die Kirche aufgrund eigener schwerwiegender Versäumnisse die Arbeiter verloren habe. Noch heute werde die Arbeiterschaft verletzt, indem berechtigte soziale Forderungen als atheistischer Sozialismus gebrandmarkt würden.
„Mehr Demokratie wagen“
Umgekehrt lobte er das Godesberger Programm (1959), mit dessen Hilfe die Sozialdemokraten begonnen hatten, sich von der Klassen- zur Volkspartei zu entwickeln. Es sei ein „kurzgefasstes Repetitorium der katholischen Soziallehre“.
Das Gespräch zwischen katholischen Sozialethikern und gemäßigten Sozialdemokraten war nie ganz verstummt. Im Zuge der Verbürgerlichung der SPD verstärkten sich diese Kontakte.
Aufsehen erregend und zum Unmut der katholischen Unionspolitiker veranstaltete die katholische Akademie in Bayern 1958 in München eine erste öffentliche Tagung mit führenden SPD-Funktionären zum Thema „Kirche und demokratischer Sozialismus“.
Gustav Gundlach fragte nach dem Platz, den die SPD der Kirche in der Gesellschaft einzuräumen bereit sei. Eine Antwort fand sich im Godesberger Programm und in späteren Reden Willy Brandts: Zur Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Sinne einer „freien Partnerschaft“ sei man stets bereit. Soziales Handeln und Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung aufgrund religiöser Bindung werde begrüßt.
Während die Katholiken der überkonfessionellen Unionsparteien ihrer Politik das christliche Menschenbild als selbstverständlich unterlegten und sich andererseits deutlich von Ansprüchen der Kirche absetzten, um nicht den alten Klerikalismusvorwurf zu ernten, geriet sie bei einem Teil der Kirchenvertreter und Katholiken in die Kritik. Die Frage nach dem „C“ begleitet die Christdemokraten seit ihrer Gründung.
Hingegen wurden die Sozialdemokraten, nachdem sie Kirche und Religion nicht mehr feindlich gegenüberstanden, für Katholiken wählbar. Die Hirtenbriefe vor Bundes- und Landtagswahlen enthielten keine Negativliste mehr, sondern mahnten die Gläubigen nur noch, ihre Stimme solchen Parteien zu geben, die christlichen Werten nicht widersprächen.
Umbruch
Die Vollversammlung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken schickte 1967 mit Bundesverkehrsminister Georg Leber erstmals einen Sozialdemokraten ins oberste Gremium.
Der politische Katholizismus rückte sichtbar von festen Parteizuordnungen ab und repräsentierte seit den 1970er Jahren zunehmend die verschiedensten politischen Richtungen. Eine Regierung von SPD und FDP löste 1969 die Unionsparteien ab. Doch die Enttäuschung durch die sozial-liberale Koalition ließ nicht lange auf sich warten. Vor allem die Reformen des Eherechts, des Sexualstrafrechts und der Abtreibung rührten an den Kern traditioneller katholischer Positionen.
Die gesellschaftliche Debatte führte einerseits zur Sammlung christlicher Bürger: Es wurden Arbeitskreise zum Schutz des ungeborenen Lebens gebildet, Großkundgebungen veranstaltet und Hilfsaktionen organisiert.
Katholische und evangelische Kirche gaben erstmals eine gemeinsame Denkschrift heraus, die „den sittlichen Wertvorstellungen von allgemeiner Gültigkeit“ Gehör verschaffen sollte.
Doch mussten die Kirchen feststellen, dass sie nicht mehr Einfluss hatten als andere gesellschaftliche Gruppen und dass es für sie schwerer wurde, eine Sprache zu finden, die eine zunehmend pluralistischere, emanzipatorischer gesinnte Bevölkerung – einschließlich der Gläubigen – erreichen konnte.
Die Aufbaujahre waren vorbei. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden die sozialpolitischen einschließlich der vermögens- und bildungspolitischen Leistungen ausgebaut. Das Anspruchdenken wuchs. Gleichzeitig verschärfte sich die Gesellschaftskritik, seit 1968 griffen Studentenproteste um sich.
Erste größere gesellschaftliche Krisen und Umbrüche zeichneten sich ab: Ölkrise und Energieverteuerung, Kernkraftwerke und Umweltschutz, Einbrüche in der Schwerindustrie und Aufstieg Asiens, Entwicklung der Kommunikations- und Computertechnologie als Wachstumsmotor.
Neue Soziale Frage
Bis in die 1980er Jahre band schließlich das atomare „Wettrüsten“ Gelder und verbreitete ein diffuses Gefühl von Kriegsgefahr. Die westlichen Sozialstaaten gerieten durch Konjunktureinbrüche, wachsende Arbeitslosigkeit, den Beginn der demographischen Verschiebung und die Kostensteigerung im Gesundheitswesen in finanzielle Engpässe, die durch öffentliche Schulden aufgefangen wurden. Die organisierte Arbeiterschaft stand nicht mehr in scharfem Klassengegensatz zum Unternehmertum, sie war in die Gesellschaft integriert. Die alte Soziale Frage war gelöst. Mit Koalitionsfreiheit, Arbeitskampf und Tarifautonomie gab es Instrumente, für nachdrückliche Forderungen.
Andere Gruppen hatten aber keine Stimme: die kinderreichen Familien, allein stehende Mütter, alte Menschen, Behinderte und Nichterwerbsfähige. Das alte Schema des Konflikts von Arbeit und Kapital war offensichtlich nicht geeignet, denjenigen zu ihrem Recht zu verhelfen, die am Produktionsprozess nicht teilnehmen konnten.
Heiner Geißler legte den Finger auf eine neuentdeckte Wunde. Auf dem CDU-Parteitag 1975 rückte er die „Neue Soziale Frage“ ins Bewusstsein. Die Union mahnte, der Staat, dem das Gemeinwohl anvertraut ist, habe für die „Nichtorganisierten“ zu sorgen.
Heiner Geißler, geboren 1930, hatte an der Jesuitenhochschule in Pullach bei München Philosophie und in Tübingen Jura studiert, wo er über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen promovierte.
Seit 1965 nahm er als CDU-Abgeordneter des Bundestages, als rheinland-pfälzischer Sozialminister sowie ab 1977 als Generalsekretär der CDU, später auch als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit besonders auf die Sozial- und Gesellschaftspolitik Einfluss.
Orientiert an der katholischen Sozialethik und mit taktischem Geschick vermochte er öffentlichkeitswirksam darzustellen, dass die Themen soziale Gerechtigkeit ebenso wie Frieden und Sicherheit die Hauptanliegen christlich-demokratischer Politik sind.
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