Die Bundesrepublik Deutschland profitierte von der Dynamik der wirtschaftlichen Verflechtungen wie vom Schutz der militärischen Nato-Partnerschaft. Als Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft nahm das Land auch an der Individualisierung und Pluralisierung der Industriegesellschaften teil.
Sozialpolitische Forderungen, die wirtschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe des Einzelnen zu garantieren, verbanden sich mit Misstrauen gegenüber dem übermächtigen Staat. Großdemonstrationen der 1980er Jahre hatten Wettrüsten, Atomkraftwerke, Datenschutz und 35-Stunden-Woche zum Thema. Zugleich führten Ereignisse wie der Reaktorunfall in Tschernobyl/UdSSR, die neue Epidemie AIDS und der Skandal um die Rinderseuche BSE die globale Auswirkung von Risiken vor Augen, denen der Nationalstaat allein nicht gewachsen ist.
„Geistig-moralische Wende“
Die sozialliberale Koalition wurde 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt. Helmut Kohl, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bildete mit Hans-Dietrich Genscher (FDP) eine neue Regierung. Unter dem Schlagwort „geistig-moralische Wende“ hatte die Union vor allem auch den katholischen Wähleranteil zurückgeholt. Der politische Katholizismus hatte sich seit Ende der 1960er Jahre in katholische Politiker vereinzelt, die als bekennende Christen aber immer noch eher in den Unionsparteien zu finden waren als in SPD oder gar FDP. Und hatten bei den Bundestagswahlen 1965 insgesamt 68 Prozent (%) aller Katholiken für die Unionsparteien gestimmt, waren es 1969 noch 65%, 1972 nur 57%; 1980 gab es mit 53% einen Tiefpunkt. Die Regierung Kohl konnte im März 1983 wieder 65% der Katholiken mobilisieren (Zahlen nach Th. Gauly: Katholiken, 1991, S. 317 ff.).
Die Erwartungen an eine christliche Politik waren bei kirchlich engagierten Katholiken hoch. Sie konnten nicht eingelöst werden, insofern wenig finanzieller Spielraum für Familien- und Sozialpolitik vorhanden war. Und auf eine ideelle geistige Umkehr waren weder die Union noch die säkularisierte Gesellschaft vorbereitet. Zumal die Abtreibungsfrage blieb eine offene Wunde. Erst mit der Neuregelung im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wurde sie wieder aufgegriffen. Nun wird zwar mit der Beratungspflicht der Schwangeren ein moralischer Einfluss ermöglicht – eine Aufgabe, derer sich auch kirchliche Beratungsstellen bis zum Veto des Papstes 1999 engagiert annahmen –, doch wurde durch die Formel „rechtswidrig, aber straffrei“ und die Kostenübernahme der Weg zur Abtreibung faktisch erleichtert.
Die Sozialpolitik musste sich seit dem Ölpreis-Schock der 1970er Jahre mit dem Erhalt des bestehenden Sicherungssystems befassen. Die so genannte Sockelarbeitslosigkeit wächst kontinuierlich an, was zu mangelnden Einnahmen der Versicherungen bei steigenden Ausgaben führt. Obwohl in den 1980er Jahren neue Arbeitsplätze entstanden, ist der Arbeitsmarkt dem Andrang der geburtenstarken Jahrgänge, der Zuwanderung und der steigenden Zahl qualifizierter Frauen nicht gewachsen. Daneben ist seit 1967/68 ein stetiger Geburtenrückgang zu beobachten. Die lange verdrängte und gegenwärtig vieldiskutierte Folge, dass künftig immer weniger Erwerbstätige zunehmend höhere Unterhaltsleistungen für nicht und nicht mehr aktive Mitbürger aufbringen müssen, zeichnet sich schon seit Jahrzehnten ab.
Sozialpolitische Kärrnerarbeit
Norbert Blüm war in der gesamten Regierungszeit von Union und FDP Arbeits- und Sozialminister. In den Jahren zwischen 1970 und 1982 war die Sozialleistungsquote von 26 auf 33% gestiegen – bis zum neuerlichen Regierungswechsel 1998 widmete er sich vor allem der Sicherung des bestehenden Sozialsystems und konnte sogar einige Lücken schließen.
Mit dem 1935 geborenen Blüm amtierte wieder ein zutiefst von der christlichen Soziallehre geprägter Politiker, der seine Linie offensiv vertrat. Aus gleicher Wurzel stammt sein weltweites Engagement für Menschenrechte und Bekämpfung der Kinderarbeit. Er hatte nach einer Werkzeugmacherlehre bei Opel in Rüsselsheim das Abendgymnasium besucht und Philosophie, Germanistik und Theologie studiert. Als Hauptgeschäftsführer (1968–1975) und Bundesvorsitzender (1977–1987) der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft prägte er das „soziale Gewissen“ der Union.
Familienpolitische Akzente setzte er mit der Einführung von Erziehungsgeld und -urlaub sowie der höheren Bewertung von Kindererziehungszeiten in der Rente. Mit der Pflegeversicherung (1995) als fünfter Säule des Systems wurde der längeren Lebensdauer des Einzelnen und der notwendigen Entlastung von Familienangehörigen bzw. der Selbstversorgung Alleinstehender Rechnung getragen. Norbert Blüm war überzeugt, dass das gewachsene Sozialversicherungssystem tragfähig und flexibel ist. Nicht Systemwechsel, sondern Reform war daher seine Devise: demographischer Faktor bei den Renten, neue Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose und weitere Anpassungen sollten die Grundsicherung stabilisieren. Dazu gehörte auch die vorsichtige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Bis 1989 sank die Sozialleistungsquote auf 29%, mit den sozialen Lasten der Wiedervereinigung schnellte sie wieder auf 33% (1994).
Die Einheit Deutschlands und der Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989/90 schenkten Millionen von Menschen Freiheit von totalitärer Herrschaft und atheistischer Staatsdoktrin. Das Zusammenwachsen der europäischen Länder ermöglicht den wirtschaftlichen Aufstieg der Transformationsländer, mit allen Chancen und Risiken für ihre Bewohner wie auch für die Westeuropäer. Die mentalen Fremdheiten und die wirtschaftlichen Kosten der Wiedervereinigung sind späte Kriegsfolgelasten. Nicht zuletzt sind sie fatale Folgen eines Gesellschaftsmodells, das eine so einfache wie radikale Lösung der „Arbeiterfrage“ vorgab, aber – wie es Johannes Paul II. ausdrückte – gerade jenen schadete, denen es zu helfen vorgab.
Der Mensch ist Person
Die Sozialenzykliken des eminent politisch denkenden Papstes haben die existentielle Lage des Menschen im Blick. Karol Wojtyla, geboren 1920 in Wadowice/Polen, hat früh seine engste Familie verloren und die Okkupation durch Deutschland erlebt. Im Oktober 1978 zum Papst erhoben, nahm er den Kampf für Religionsfreiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit auf.
In „Laborem exercens“ (1981) reflektiert Johannes Paul II. über die menschliche Arbeit angesichts des technischen Fortschritts und der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Ausgangspunkt ist der Mensch als Person, als solcher ist er Subjekt der Arbeit. Materialistische und ökonomistische Denkweisen, die die Arbeit ausschließlich als Ware verhandeln, werden ebenso abgelehnt wie die Frontstellung von Arbeit und Kapital. Die Würde der menschlichen Arbeit liegt in ihrem „schöpferischen, erzieherischen und verdienstlichen Charakter“, das heißt in ihrer Teilhabe an der geistigen Berufung des Menschen. Konsequent verweist der Papst auf „das Prinzip des Vorranges der Arbeit gegenüber dem Kapital“. Kapital wird als bloßes Instrument angesehen, insofern wird die Tätigkeit des abhängigen Arbeitnehmers auch nicht in Gegensatz zur Arbeit des Unternehmers gebracht.
Die Enzyklika „Centesimus annus“ (1991), die anlässlich des 100. Jahrestages der ersten Sozialenzyklika, „Rerum novarum“ von Leo XIII., veröffentlicht wurde, steht ganz im Zeichen der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen. Nach dem Niedergang des Kommunismus warnt die Kirche nun vor einem materialistischen Kapitalismus. Die Marktwirtschaft wird anerkannt, doch zugleich eine soziale und gerechte Rahmenordnung gefordert: Angestrebt wird eine „Gesellschaftsordnung der freien Arbeit, der Unternehmen und der Beteiligung“.
Das Gemeinsame Wort
Bezogen auf die Lage in Deutschland äußerten sich die katholische und die evangelische Kirche im Gemeinsamen Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997). Als gravierende Probleme werden die Krise des Sozialstaats, die ökologische Krise, die europäische Integration und die Globalisierung genannt. Als Hauptübel wird die Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Zu den Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen ohne Lehrstelle kommen die Arbeitslosen der neuen Bundesländer. Wohl streben die Kirchen an, dass die „Dominanz der Erwerbsarbeit“ überwunden und familien- und ehrenamtliche Tätigkeit anerkannt werden, doch stellen sie die Schaffung von Arbeitsplätzen ins Zentrum: Den Arbeitsuchenden „sollen die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Chancen der Teilnahme, der sozialen Integration, der Existenzsicherung und der persönlichen Entfaltung eröffnet werden“.
Strukturelle Reform
Die Soziale Marktwirtschaft und die Sozialversicherungssysteme werden gewürdigt, aber deren strukturelle und moralische Erneuerung angemahnt. Zum einen sollen Anspruchsrecht und Leistungspflicht spürbarer miteinander verbunden werden, zum anderen wird die Sozialpflichtigkeit des Eigentums in Erinnerung gerufen und eine breitere Vermögensstreuung gefordert. In Anbetracht der europäischen Erweiterung und des großen globalen Austauschs werden im Gemeinsamen Wort der Kirchen solidarische und friedensichernde Maßnahmen als selbstverständliche Bestandteile der Sozialpolitik herausgestellt.
Seitens der katholischen Kirche war der Vorsitzende der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, Josef Homeyer (geb. 1929), beteiligt. Der westfälische Bauernsohn hat nach dem Theologiestudium in Soziologie promoviert. Seit 1972 Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, bemühte er sich besonders um die Zusammenarbeit mit den Bischöfen in der DDR und die Verständigung mit den polnischen Bischöfen. 1983 wurde er Bischof von Hildesheim.
Homeyer schrieb das Gemeinsame Wort mit dem Papier „Das Soziale neu denken“ (2003) fort, in dem er zusammen mit führenden Katholiken aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Eckpunkte für eine langfristige Reformpolitik formulierte.
Als zentrale Herausforderungen werden neben der strukturellen Arbeitslosigkeit der demographische Wandel und die Erosion alter Solidaritätsformen aufgeführt. Subsidiarität und Solidarität sind die Leitbilder für die notwendigen Reformen. Sie beinhalten Eigenverantwortung als Recht und Pflicht, Hilfe zur Selbsthilfe und Förderung der solidarischen Netzwerke wie Familie, gemeinnützige Einrichtungen und Nachbarschaftshilfen. „Das Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft verlangt, ihren Mitgliedern dasjenige materielle Auskommen zu gewährleisten, das sie brauchen, um an dieser Gesellschaft teilzuhaben. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen deshalb begrenzt werden. … Je pluralistischer und individualistischer unsere Gesellschaft wird, desto wichtiger wird die Beteiligungsgerechtigkeit, und umso mehr müssen Menschen ihre Fähigkeiten entwickeln und ihre Bereitschaft entfalten können, zum Gelingen des Ganzen beizutragen.“
Neue Solidarität
Es wird ein „integrales Verständnis von sozialer Politik“ entwickelt: Erstens sind sozialpolitische Maßnahmen an ihren Folgen für die Ausgeschlossenen und die kommenden Generationen zu messen. Zweitens sind die Felder, die nicht zur traditionellen Sozialpolitik zählen, zum Sozialen in Bezug zu setzen, vor allem die Familien- und Bildungspolitik. Die Fixierung auf Transferleistungen soll zugunsten der Förderung von Ausbildung und sonstiger zukunftsorientierter, produktiver Bereiche aufgebrochen werden.
Der Sozialkatholizismus Deutschlands ist im Wesentlichen in den katholischen Verbänden beheimatet. Sie haben sich – wie die Gesellschaft insgesamt – einerseits pluralisiert. Andererseits wurden die vielfältigen Dienste professionalisiert, was die Qualität der Arbeit sicher verbessert hat, aber Gefahr läuft, das „unprofessionelle“ ehrenamtliche Engagement zurückzudrängen.
Zudem tun sich die Laienräte schwer, mit fundierten Stellungnahmen den öffentlichen Raum zu erobern. Das kirchliche Amt mit seinen Enzykliken und bischöflichen Schriften macht auch bei politischen Kontroversen seine Autorität geltend. Das ist gut so, aber der Aufgabenbereich der Laien und die Zuständigkeit der Amtsträger ist nicht klar abgegrenzt.
Bernhard Sutor, Sozialethiker an der Katholischen Universität Eichstätt und langjähriger Laienratsvorsitzender, fordert daher ein rechtlich institutionalisiertes Forum für Amt und Laien, um das Nebeneinander zu einem gleichberechtigten Miteinander zu verknüpfen.
Wie die Kirche als Ganze, müssen auch die Verbände in einer zunehmend entchristlichten Gesellschaft leben. Die Milieus haben sich im Zuge von wirtschaftlicher und technischer Entwicklung, gesellschaftlicher Mobilität und einer Pluralisierung der Lebensstile weitgehend aufgelöst. Der Abstand zur Kirche wächst. Mit der deutschen Einheit haben sich überdies die Bevölkerungsanteile von Christen und Nicht-Christen verschoben. Gehören im Westen 76% der Bevölkerung einer christlichen Kirche an, so sind es im Osten nur 28% (4% kath.). Im gesamten Bundesgebiet leben jeweils ca. 32% Katholiken und Protestanten und 35% Nicht-Christen (2002).
Erbe und Auftrag
Je nach Problem und eigener Betroffenheit (z. B. Arbeitslosigkeit) erwartet nur ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung eine Antwort der Kirchen auf sozial- und wirtschaftspolitische Fragen. Soziaethische Kompetenz wird offenbar weniger dem Klerus als vielmehr Wissenschaftlern, Vertretern von Verbänden und Interessengruppen sowie Politikern zugetraut.
Das Ringen um das soziale Gleichgewicht ist zudem eine Machtfrage zwischen den Organisierten und Besitzenden (auch Arbeitsplatzbesitzenden) und den Nicht-Organisierten, Nicht-Besitzenden (wie Erwerbslose, künftige Generationen).
Angesichts der Globalisierung, des technischen Fortschritts, der Migrationen und der Neuformierung Europas stehen wir vor geschichtsträchtigen, tiefgreifenden Umbrüchen. Es ist es notwendig, einen sozialen Konsens herzustellen, der für einen neuen Gesellschaftsvertrag taugt. Verantwortung für die soziale und demokratische Ordnung können die Katholiken wahrnehmen, indem sie versuchen, die bewährte christliche Sozialethik auf die neuen Gegebenheiten anzuwenden.
|