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In seiner gegenwärtigen Situation kann das Kolpingwerk nicht einfach dem von Kolping zu Lebzeiten geschaffenen und gestalteten Verband katholischer Gesellenvereine gegenübergestellt werden. Man kann nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß Kolpings Werk selbst im verflossenen Jahrhundert einen vielfältigen Entwicklungs- und Wandlungsprozeß durchgemacht hat, daß es zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte ein starres Gebilde war, gewissermaßen unbeeinflußt von der Zeitlage, sondern vielmehr stets um die Anpassung an aktuelle Gegebenheiten und Bedingtheiten bemüht bzw. zu einer solchen Anpassung gezwungen war.
Kolping selbst hat verschiedentlich betont, daß man den konkreten Strukturen und Aktivitäten des Verbandes keine zeitlich unbeschränkte Geltung zumessen könne, sondern stets offen gegenüber der Möglichkeit oder Notwendigkeit sein müsse, die Wirklichkeit des Verbandes den Gegebenheiten und Erfordernissen der Zeit anzupassen. „Wir müssen uns durch Erfahrung und Zeit belehren und weisen lassen. Manches wird sich als nur für diese Zeit und gerade für die gegenwärtigen Umstände passend erweisen. Wie sich Zeit und Umstände ändern, hat es sich dann den Verhältnissen anzuschließen.“ An anderer Stelle heißt es, der große Erfolg, den der Gesellenverein in den ersten Jahren seines Bestehens erreicht habe, beweise noch keineswegs, „daß damit gerade alles im Verein, so wie es jetzt ist, auch geradeso sein und bleiben müsse“. Wenn Kolping in dieser Weise Wandel und Anpassung zumindest im Grundsatz bejaht bzw. sogar fordert, so bedeutet dies nicht zuletzt, daß sich niemand unter Berufung auf Kolping gegen Veränderungen im Verband wenden kann, sofern dabei nicht die wesentlichen Grundlagen aufgegeben werden.
Ein bestimmendes Merkmal der Verbandsentwicklung ist ein in verschiedener Hinsicht deutlicher Prozeß der Ausweitung und Öffnung. Was die Ausdehnung des Verbandes betrifft, so kann man von einem im ganzen kontinuierlichen Wachsen sowohl in räumlicher, d.h. verbreitungsmäßiger Hinsicht als auch bezüglich der Mitgliederzahl sprechen. Seit der Zeit Kolpings stieg die Zahl der dem Verband angeschlossenen Vereine ständig, und auch die Zahl der Länder nahm zu, in denen das Kolpingwerk vertreten ist. Hier brachten die Ereignisse im Gefolge des Zweiten Weltkrieges allerdings einen fühlbaren Rückschlag, vor allem durch den Untergang der blühenden Zentralverbände Ungarns und Rumäniens. Zur Zeit ist das Kolpingwerk in neunzehn Ländern der Erde vertreten und umfaßt rund 250.000 Mitglieder, davon etwa 50.000 außerhalb Deutschlands.
Das Wachsen des Verbandes wies — trotz der doch weitgehenden Selbständigkeit der einzelnen Untergliederungen — der Führung einen immer größeren Aufgabenbereich zu und ließ den allmählichen Aufbau und Ausbau eines „Apparates“ notwendig werden.
Seit den Anfängen — Einrichtung des Generalsekretariats im Jahre 1902 — hat sich die Zentrale zu einem umfangreichen — freilich gewiß nicht aufgeblähten — Führungs- und Verwaltungsorgan entwickelt, das eine breite Vielfalt von Aufgaben wahrnimmt, die in ihrer Gesamtheit und in ihrer Bedeutung an der Basis freilich nicht so einfach voll zu übersehen und richtig einzuschätzen sind. Dieses Wachsen des Verbandes war von einer Tendenz zur Formalisierung und Institutionalisierung von Aktivitäten und Strukturen begleitet bzw. geprägt. Zweifellos war damit ein gewisser Verlust an Spontanität und Vitalität — als spezifischen Merkmalen der Anfangsphase — verbunden; eine solche Entwicklung ist jedoch letztlich unumgänglich zur Gewährleistung von Festigkeit und Kontinuität, sie findet sich sinngemäß in der Geschichte aller vergleichbaren Organisationen, gerade solcher von ähnlicher Größenordnung.
Wichtige Entwicklungen vollzogen sich in der Führungsstruktur. Auf allen Ebenen wurden im Laufe der Zeit die den jeweils gegebenen Umständen angemessenen bzw. angemessen erscheinenden Festlegungen und Abgrenzungen von Kompetenzen der innerverbandlichen Meinungs- und Willensbildung vorgenommen und wurden die jeweils entsprechenden Gremien zur Beratung und Entscheidung anstehender Fragen etabliert und institutionell verankert.
Dabei ist der Trend zur Ausweitung des Rahmens der Mitspracheund Entscheidungsberechtigten unverkennbar, eine Entwicklung zu verstärkter gemeinschaftlicher Willensbildung und Entscheidungsfindung, wie sie heute in der Existenz der verschiedenen Beschlußgremien zum Ausdruck kommt. Hier spiegelt sich ganz deutlich jene grundlegende Entwicklung im politischen und gesellschaftlichen Raum, die auf eine zunehmende Mitsprache der Menschen bei der konkreten Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse zielt; eine Entwicklung, die gemeinhin — mehr oder weniger zutreffend — mit dem Stichwort Demokratisierung gekennzeichnet wird. Zugleich kommt — vom engen Bezug des Verbandes zur Kirche her gesehen — darin die für die innerkirchliche Entwicklung bedeutsame Tendenz zur stärkeren Beteiligung der Laien am kirchlichen Leben zum Ausdruck.
Die wichtigsten Veränderungen gegenüber der Anfangsphase erfuhr das Kolpingwerk hinsichtlich der Struktur seiner Mitgliedschaft; gerade hier ist jene Öffnung — als kontinuierlicher Prozeß — deutlich, von der oben die Rede war. Zunächst erfolgte eine Ausweitung der möglichen Mitgliedschaft in altersmäßiger Hinsicht.
Sehr früh schon hatten sich verschiedene Formen der Vereinigung jener gebildet, die nach der Verheiratung bzw. nach Erreichung der beruflichen Selbständigkeit aus der aktiven Mitgliedschaft im Gesellenverein hatten ausscheiden müssen; nach und nach wurden diese Gruppen nun unmittelbar in den Verband integriert, erhielten ihre Angehörigen — als Gruppe Altkolping — die volle Mitgliedschaft.
Ähnliches vollzog sich auf der anderen Seite mit der Eingliederung der zunächst gewissermaßen als Vorstufe zum Gesellenverein konzipierten Lehrlingsgruppen, aus denen sich die Gruppe Jungkolping entwickelte. Über eine ganze Reihe kleiner Schritte hat sich so der heutige dreistufige Aufbau des Verbandes herausgebildet, wobei die Bedeutung dieser Entwicklung darin zu sehen ist, daß nun für den einzelnen eine dauerhafte, fast das ganze Leben umspannende Mitgliedschaft möglich ist, daß der Verband also wirklich eine lebensbegleitende Institution geworden ist.
Die Umbenennung des katholischen Gesellenvereins in Kolpingsfamilie im Jahre 1933 markierte — auch wenn konkrete politische Notwendigkeiten eine wichtige Rolle spielten — einen wichtigen Schritt in dieser Entwicklung, drückte sich damit doch auch im Namen des Verbandes sein gegenüber den Ursprüngen weit umfassenderer Charakter aus. Eben dies wird darüberhinaus auch in der Zusammensetzung der Mitglieder deutlich, wo — speziell seit 1945 in größerem Maße sichtbar — ein Prozeß kontinuierlich wachsender Heterogenität unverkennbar ist. Der Verband weist hinsichtlich der beruflichen und gesellschaftlichen Positionen seiner Mitglieder eine zunehmende Breite auf; längst bilden nicht mehr allein oder auch nur mehrheitlich junge Handwerker den Nachwuchs, dieser rekrutiert sich vielmehr immer mehr aus allen Schichten der Bevölkerung und aus allen Berufen. Ein letzter Schritt in Richtung auf die volle Offenheit des Verbandes wurde schließlich in jüngster Zeit dadurch getan, daß auch Frauen und Mädchen die Möglichkeit der Mitgliedschaft erhielten, so daß heute faktisch jeder Mitglied des Kolpingwerkes werden kann, der sich mit den Zielen des Verbandes identifiziert bzw. der zunächst einmal sein Interesse am Werk Kolpings bekundet.
Diese Entwicklung muß wiederum im Zusammenhang mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen gesehen werden, sie ist nur vor dem Hintergrund solcher Wandlungen richtig zu verstehen. Wichtig ist dabei zum einen die doch weitgehend gewandelte Situation des Handwerks. Die Herausbildung eines neuen Ordnungsgefüges in Gestalt des Innungswesens, die Neuorganisation des Berufsbildungswesens, Verbesserungen des Schulwesens insgesamt, das allmähliche Verschwinden der beruflichen Wanderschaft, die umfassenden Regelungen und Vorsorgemaßnahmen der staatlichen Sozialpolitik und manches andere mehr führte dazu, daß die besonderen Probleme des Gesellenstandes, wie Kolping sie erlebt hatte, an Umfang und Schärfe verloren, während gleichzeitig Staat und Berufsorganisationen einen Großteil jener Aufgaben übernahmen, an die zur Zeit Kolpings weithin nur der Gesellenverein herangegangen war.
Das Kolpingwerk wurde so in gewisser Weise „entlastet“, es bekam jene Möglichkeit einer Ausweitung von Zielsetzungen und Aktivitäten und einer Ansprache breiterer Kreise der Bevölkerung, deren Nichtvorhandensein Kolping zur klaren Beschränkung der eigenen Bemühungen veranlaßt hatte. Die Öffnung des Verbandes, von der die Rede ist, wurde auf der anderen Seite auch durch die seit Kolpings Zeit deutlich fortschreitende Nivellierung des sozialen Gefüges unserer Gesellschaft ermöglicht bzw. erleichtert, also durch den Abbau der mehr oder weniger schroffen Standesgrenzen mit der entsprechenden Tendenz zur Angleichung traditionell unterschiedlicher Lebensformen und Verhaltensweisen. Diese Entwicklung, der Trend zur Mittelstandsgesellschaft, von dem heute oft die Rede ist, brachte es mit sich, daß sich im Kolpingwerk auf allen Ebenen ein sehr viel größerer Kreis von Menschen zu gemeinschaftlichem Wirken zusammenfinden konnte als zur Zeit Kolpings, daß — anders gesagt — heute mehr Menschen in dem Sinne zueinander passen, wie Kolping es als Voraussetzung für ein effektives Vereinsleben herausgestellt hatte.
Entwicklungen dieser Art, deren Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu komplex ist, um mit einigen wenigen Andeutungen ausreichend verdeutlicht zu werden, konnten natürlich nicht ohne weitreichende Auswirkungen auf Selbstverständnis, Zielsetzungen und Aktivitäten des Verbandes bleiben; in späterem Zusammenhang wird hierauf noch einzugehen sein, ist doch gerade heute das Selbstverständnis ein wichtiges Thema der innerverbandlichen Diskussion.
An dieser Stelle ist zunächst nur ganz allgemein zu sagen, daß der vielschichtigen Öffnung und Ausweitung des Verbandes eine innere Entwicklung entsprach und entspricht, die im Kolpingwerk immer weniger die auf die spezifischen Probleme einer bestimmten Berufsgruppe ausgerichtete Institution sieht, also eine Einrichtung zur Unterstützung und Betreuung junger Handwerker, sondern mehr und mehr eine umfassende — in Zusammensetzung und Äußerungsformen breit angelegte — Lebens- und Aktionsgemeinschaft engagementsfähiger und -williger Christen. Ein solcher Wandlungsprozeß mit seinen vielfältigen konkreten Ausprägungen auf den unterschiedlichen Ebenen ist freilich nicht in bestimmten Daten oder Ereignissen faßbar, er ist letzlich auch keine Sache von Beschlüssen und Programmen, in denen er sich im Grunde nur zu spiegeln vermag, die ihm gewissermaßen konkreten Ausdruck verleihen bzw. über ihn Rechenschaft ablegen; tatsächlich vollzog und vollzieht er sich ganz allmählich, mitunter fast unmerklich, dem unmittelbaren Erleben nicht so deutlich wie der historischen Rückschau.
Die Geschichte des Kolpingwerkes, besser gesagt des Kolpingschen Werkes, konnte und sollte hier nur andeutungsweise gestreift werden, auch wenn sie sehr wohl einer näheren Betrachtung wert wäre, eine ganze Menge an Erfahrungen und Anregungen zu vermitteln vermag, die heute nützlich sein können. Bedauerlicherweise hat auch sie, wie die Biographie Kolpings, bislang noch keine umfassende, heutigen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung erfahren; eine Darstellung, die nicht nur dem Verband selbst nützlich sein könnte, sondern darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des katholischen Vereinswesens überhaupt liefern würde. Freilich dürfen die Schwierigkeiten nicht übersehen werden, die sich einem solchen Unterfangen in den Weg stellen würden, da das heute noch zur Verfügung stehende Quellenmaterial gerade für die erste Zeit recht lückenhaft ist.
Kolpings Ansatzpunkte und Aktionsfelder heute
Der tiefgreifende Wandel im Dasein der Menschen, der sich seit Kolpings Zeit vollzogen hat, ist bereits mehrfach angesprochen worden; ein Wandel, der sich besonders sichtbar in unserem Jahrhundert vollzogen hat und weiterhin vollzieht, von den älteren Mitbürgern in weitem Maße unmittelbar miterlebt, zum Teil wohl auch erlitten. Ganz unmöglich ist es, das Ganze der Entwicklungen in wenigen Zügen hinreichend zu verdeutlichen oder gleichsam auf einen Nenner zu bringen, hier ein bestimmtes kennzeichnendes Charakteristikum im Sinne einer bestimmten „Richtung“ aufzuweisen. Zweifellos wäre es auch eine unzulässige Vereinfachung, wollte man die Vielfalt der zu beachtenden Faktoren in globaler Zusammenfassung positiv oder negativ bewerten, etwa als Fortschritt in jeder Hinsicht oder — als Gegenposition — als permanenten Verfall einer einstmals „heilen Welt“.
Blicken wir von unserer eigenen Gegenwart auf die Zeit Kolpings zurück, so zeigt sich, daß manches von der aktuellen Situation als Weiterentwicklung dessen zu verstehen ist, was damals grundgelegt wurde. oder sich deutlich abzuzeichnen begann. So etwa der weltanschauliche Pluralismus, der heute doch noch ausgeprägter in Erscheinung tritt als damals. Dieses Neben- und Gegeneinander grundlegender geistiger Orientierungs- und Wertsysteme hat im Laufe der Zeit dadurch eine wichtige neue Perspektive gewonnen, daß es nun nicht mehr allein innerhalb einzelner Gesellschaften gegeben, sondern ein bedeutsamer Faktor der internationalen Politik geworden ist, indem Staaten oder ganze Staatengruppen als Träger bestimmter Weltanschauungen auftreten und sich deren Verbreitung zum Ziel gesetzt haben, dabei einen mehr oder weniger starken missionarischen Eifer entfaltend. Insofern kann heute wohl von einer gestiegenen Bedeutung der weltanschaulichen Auseinandersetzungen gesprochen werden, und zwar letztlich für jeden.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß heute auch der weltanschauliche Indifferentismus im oben angesprochenen Sinne weiter verbreitet ist als jemals zuvor; dies verstärkt die Bedeutung jener Auseinandersetzungen eher noch.
Eine enorme Weiterentwicklung ist im Bereich der Verkehrs- und Nachrichtenmittel zu verzeichnen, im Gesamtbereich gesellschaftlicher Kommunikation. Erlebten die Menschen zur Zeit Kolpings hier die ersten grundlegenden Neuerungen nach Jahrhunderten relativ gleichbleibender Gegebenheiten und Bedingtheiten, so sind in den Jahrzehnten seither geradezu revolutionäre Veränderungen eingetreten, die es möglich werden ließen, fast jeden Punkt der Erde in kürzester Zeit zu erreichen und Nachrichten von überall her in wenigen Augenblicken über die ganze Erde zu verbreiten, die es zudem einem großen Teil der Menschheit gestatten, sich in umfassender und schnellstmöglicher Weise über das Geschehen in der Welt zu informieren und sich selbst in weiten Teilen der Welt „umzuschauen“, andere Menschen und Länder kennenzulernen.
Die Bedeutung dieser Entwicklung liegt vor allem darin, daß ein größeres Maß an Information das Verständnis für die vielfältigen Verhältnisse und Probleme in der Welt fördern und damit zu besserer Verständigung und Zusammenarbeit beitragen kann; dann aber auch darin, daß eine intensive und ungehinderte gesellschaftliche Kommunikation in hohem Maße zur Kontrolle und Versachlichung des im weitesten Sinne verständenen politischen Geschehens dienen kann. Allerdings ist zu betonen, daß hier nur von Möglichkeiten die Rede sein kann; Geschichte und Gegenwart bieten genügend Beispiele für eine mit ganz anderen Zielen und Auswirkungen erfolgende Nutzung der neuen Kommunikations- mittel, die der Verstärkung von Vorurteilen etwa ebenso dienstbar gemacht werden können wie der Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse, insgesamt also der Manipulation des Menschen, von der heute ja soviel die Rede ist, zumeist freilich mit mehr Pathos als Sachverstand.
Kolpings Gegenwart erlebte wichtige Ansätze in Richtung einer mannigfaltigen Öffnung des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Gemeint sind nicht allein die ersten Schritte auf dem Wege zu wirklicher Demokratisierung des öffentlichen Lebens, d. h. zur zunehmenden Beteiligung — zumindest potentiell — der Masse der Bevölkerung am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß, sondern auch die Tendenzen zum Abbau schroffer gesellschaftlicher Unterschiede, zur Angleichung von Daseinsbedingungen, die ihrerseits eng mit der wachsenden sozialen Mobilität in horizontaler und vertikaler Hinsicht zusammenhängen, d. h. der größeren räumlichen „Beweglichkeit“ der Menschen im Zuge des Geringer-Werdens fester Verwurzelungen in bestimmten landschaftlichen und kulturellen Umgebungen auf der einen und der breiteren Möglichkeiten gesellschaftlichen Aufstiegs — und natürlich auch Abstiegs — auf der anderen Seite. Auch hier ist die Entwicklung seither mit großen Schritten vorangegangen, stichwortartig sei nur auf die feste Etablierung einer demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnung und auf die vielfältigen Tendenzen zu mehr Mitgestaltung und Mitbestimmung der Menschen in den verschiedensten Lebensbereichen verwiesen. Was die vertikale Mobilität betrifft, so wird die Entwicklung oft mit dem Hinweis auf die Tendenz zur allmählichen Herausbildung einer relativ homogenen Mittelstandsgesellschaft zu kennzeichnen versucht. Ein ganz einfaches, aber unmittelbar augenfälliges Beispiel für diese Entwicklung ist etwa die Tatsache, daß sich heute die soziale Stellung des einzelnen nicht mehr schon an seinem Äußeren, d. h. vor allem an seiner Kleidung, ablesen läßt, wie dies zur Zeit Kolpings und auch noch danach weithin selbstverständlich war.
Eine weitere wichtige Entwicklung ist jene, die auf eine immer weiter gehende Spezialisierung und Differenzierung in den verschiedensten Bereichen hinzielt, deutlich besonders in allen Zweigen des Arbeitslebens, wo die Zahl der unterschiedlichen Berufe ständig zunimmt und wo entsprechend eine wachsende Differenzierung der Ausbildungsgänge gegeben ist. Deutlich ist dies auch im Bereich der Wissenschaften, wo in den zurückliegenden Jahrzehnten eine geradezu explosionsartige Ausweitung von Forschungsbereichen und auch -ergebnissen vor sich ging; die immer stärkere Ausdifferenzierung von Fachrichtungen führte zur Zergliederung früher geschlossener, quasi im Ganzen überschaubarer Bereiche in ein breites Feld von Einzeldisziplinen. Eine solche Entwicklung zur Spezialisierung, zum Spezialistentum ist letztlich unvermeidbar, wenn die nicht nur im Gefolge des technischen Fortschritts immer komplizierter werdende Wirklichkeit überhaupt noch angemessen bewältigt werden soll; allerwichtigste ist wohl das der für den einzelnen immer geringer werdenden Möglichkeit bzw. Fähigkeit zum Überschauen „seiner“ Welt, gefolgt von der zunehmenden Abhängigkeit — im Sinne des notwendigen Sich-Verlassen-Müssens — vom Fachmann, dessen Tun sich mehr und mehr der Kontrolle entzieht bzw. entziehen kann.
Erwähnung verdient schließlich auch und nicht zuletzt die unverkennbare Tendenz zu einer wachsenden Flexibilität des menschlichen Verhaltens, zu einem rascheren Wandel der im weitesten Sinne verstandenen sozialen Verhaltensweisen, wo es heute nur noch in einem weit geringeren Maße als zu früheren Zeiten dauerhafte, verbindliche — d. h. allseitig anerkannte — Normen und die entsprechenden Kontroll- und Sanktionsmechanismen gibt. Dies gilt — natürlich in unterschiedlichem Maße — für alle Verhaltensebenen, also sowohl für die weltanschaulich begründeten sittlichen Normen wie für den Bereich des staatlichen Rechts, sowohl für jene Bereiche sozialen Verhaltens, die gemeinhin mit den Begriffen „Sitte“ und „Brauchtum“ angesprochen werden als auch für das weite Feld der Gewohnheiten und Moden, hier besonders ausgeprägt, da dieser Bereich ohnehin am wenigsten irgendwelchen starren, verbindlichen Regelungen unterliegt.
Natürlich hängt diese Entwicklung mit der oben angesprochenen Zunahme von weltanschaulichem Pluralismus und Indifferentismus zusammen, sie ist darüber hinaus jedoch in einem ganz allgemeinen Sinne durch die Gesamtheit der sozialen Wandlungsprozesse bedingt und geprägt, ist letztlich die folgerichtige Konsequenz wachsender persönlicher Freiheit bzw. Ungebundenheit und gesellschaftlicher Mobilität. Eine Folge ist natürlich die in mancher Hinsicht unverkennbare Verhaltensunsicherheit, die Suche nach Orientierungen und Haltepunkten, von der aus sich für die verschiedensten Strebungen und Interessen verstärkte Einflußmöglichkeiten ergeben, und zwar in allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens.
Mit den bisherigen Ausführungen sind nur einige wichtig erscheinende Faktoren des Wandels seit der Zeit Kolpings angedeutet worden. Überblickt man das Ganze dieses Wandels, so wird man sagen müssen, daß die sozialen Probleme heute nicht mehr bzw. nicht mehr durchgängig dieselben sind wie zur Zeit Kolpings.
Keineswegs sind all die Probleme, die Kolping sah und denen er sich zuwandte, heute in dem Sinne gelöst, daß sie keine Aufmerksamkeit mehr beanspruchen könnten oder gar in Vergessenheit geraten wären, wohl aber haben sie doch viel von ihrer Schärfe oder Intensität verloren und stehen folglich nicht mehr in vergleichbarem Maße im Mittelpunkt des Interesses. So sind die scharfen Klassengegensätze, die die Früh- und Hauptphase der Industrialisierung kennzeichneten, heute doch sehr stark abgebaut. Der antagonistische Gegensatz zwischen Besitzenden und Herrschenden auf der einen und Besitzlosen und Unterdrückten auf der anderen Seite hat — auch wenn manche dies nicht wahrhaben wollen — mehr und mehr einem freilich keineswegs konfliktfreien Nebeneinander vielfältig abgestufter sozialer Schichten Platz gemacht, deren Übergänge durchaus fließend sind und die als solche keine fest umrissenen gesellschaftlichen und politischen Interessengruppen oder Machtfaktoren darstellen.
Die ungehemmte Ausbeutung von Menschen und Naturschätzen ist allmählich einem vielfältig regulierten und kontrollierten Wirtschaftsprozeß gewichen, der — wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß — allen Schichten der Bevölkerung Fortschritte hinsichtlich ihrer materiellen Existenzbedingungen brachte, wo jedenfalls nicht mehr von materieller Verelendung breiter Bevölkerungsgruppen die Rede sein kann.
Technische und wirtschaftliche Veränderungen, das sich ständig ausweitende Feld staatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, das Wirken der Gewerkschaften, Wandlungen und Fortschritte im Bildungsbereich, dies und vieles andere mehr hat eine Entwicklung ermöglicht und geprägt, die die konkrete Ausgangssituation des Kolpingschen Wirkens doch erheblich verändert hat. Von einer vergleichbaren materiellen und sozialen Notlage der jungen Handwerker bzw. der jungen Arbeitnehmer insgesamt kann jedenfalls nicht mehr gesprochen werden, zumal da eben eine ganze Reihe jener Aufgaben im Bereich der sozialen Sicherung und der beruflichen Bildung, denen sich der Gesellenverein zur Zeit Kolpings zuwandte, und zwar mehr oder weniger allein, inzwischen von Staat und Wirtschaft wahrgenommen wird.
Die Tatsache, daß bestimmte Probleme früherer Zeit heute nicht mehr oder nicht mehr mit gleicher Dringlichkeit gegeben sind, bedeutet freilich nicht, daß es der Welt nun gewissermaßen besser ginge, daß unser Dasein problemfrei wäre. Vielmehr haben die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zugleich mit dem Abbau alter einer ganze Reihe neuer, früher gar nicht oder nur sehr wenig bekannter bzw. bewußter Probleme mit sich gebracht, deren Bewältigung heute im Vordergrund des Interesses steht oder stehen muß. Mit den Stichworten „Umwelt“ und „Dritte Welt“ sind z. B. zwei umfangreiche Problemkreise angesprochen, an denen heute nicht mehr vorbeigegangen werden kann.
Zum einen geht es hier — ganz allgemein gesagt — um das Überleben der Menschheit auf einer bislang schonungslos behandelten Erde, um die Erhaltung angemessener Lebensbedingungen auf unserer Erde, deren mittlerweile doch schon weit fortgeschrittene Schädigung durch die technisch-industriellen Entwicklungen erst in jüngster Zeit deutlich geworden ist und nun einem immer größeren Personenkreis bewußt wird. Zum anderen geht es um die Überwindung der krassen Unterschiede in den Lebensverhältnissen und -bedingungen der verschiedenen Nationen dieser Erde, um die Schaffung menschenwürdiger Existenzbedingungen für einen Großteil der Weltbevölkerung, dessen prekäre Lage ja in doch nicht unerheblichem Maße durch die reichen Industrienationen herbeigeführt, zumindest aber verstärkt wurde. Nachdem unsere Zeit die politische Unabhängigkeit fast aller jener Nationen gebracht hat, die von den Industriestaaten für mehr oder weniger lange Zeit unter politische und wirtschaftliche Kontrolle gebracht worden waren, wird die Notwendigkeit umfassender Hilfen für die unterentwickelten Regionen der Erde allmählich von einer wachsenden Zahl von Menschen erkannt. Bei solchen Prozessen der Bewußtseinsbildung und -veränderung spielen die angesprochenen Fortschritte im Verkehrs- und Nachrichtenwesen eine nicht unerhebliche Rolle, ermöglichen sie doch erst das Kennenlernen und Verstehen der vielfältigen Probleme in der Welt.
In unserer Gesellschaft gibt es darüber hinaus natürlich die verschiedensten aktuellen Einzelprobleme, man denke etwa nur an die schwierige Situation der verschiedenen Randgruppen, der sozial Schwachen oder der Gastarbeiter oder aber an die geistigseelische Notlage vieler Menschen, die sich in dieser oder jener Weise in unserer komplizierten Welt nicht „zurechtzufinden“ vermögen. Hier kommt es nicht darauf an, einen möglichst umfassenden Überblick über die gegenwärtige Gesamtsituation der Welt geben zu wollen, wie er auf so knappem Raum ohnehin nicht in wirklich ausreichendem Maße möglich wäre; mit dem Aufzeigen einiger wichtiger Faktoren, was im folgenden noch in anderer Blickrichtung ergänzt bzw. weitergeführt werden wird, soll zunächst einmal nur angedeutet werden, daß auch heute die Welt nicht „in Ordnung“ ist, daß auch in unseren Tagen ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Unbehagen an der Wirklichkeit möglich, ja notwendig ist, wenngleich es in mancher Hinsicht anders akzentuiert sein kann und sein muß, als es bei Kolping der Fall war. Konkret wird damit auch für die Gegenwart die Notwendigkeit der Veränderung betont, des im weitesten Sinne verstandenen sozialen Wandels.
Das Streben nach Veränderung ist heute sicherlich so weit verbreitet wie nie zuvor; in allen politischen und weltanschaulichen Lagern findet man die im Grundsatz übereinstimmende Überzeugung von einer entsprechenden Notwendigkeit. Freilich bedeutet dies keine Gemeinsamkeit in den Zielsetzungen und Aktivitäten; im Gegenteil ist heute eine übergroße Anzahl unterschiedlicher Ansätze gegeben, teils nebeneinander bestehend und in mehr oder weniger weitem Maße vereinbar, im Kompromiß gewissermaßen zusammenführbar, teils aber auch in schroffem Gegeneinander, in wechselseitiger Ausschließung.
Die Bandbreite der Vorstellungen und Zielsetzungen hinsichtlich möglicher bzw. notwendiger Veränderungen reicht von vorsichtig reformerischen bis hin zu radikal revolutionären Ansätzen, wobei das politische Geschehen in unseren Tagen in ganz wesentlichem Maße durch die Auseinandersetzungen um den richtigen Weg, die angemessene Methode sozialen Wandels gekennzeichnet ist. Der jeweilige Stand dieser Auseinandersetzung, deren Klima durch ein schärferes Gegeneinander unterschiedlicher Positionen — im Gefolge des neuerlichen Auftretens radikaler, mit kompromißloser Intoleranz verfochtener Konzeptionen — gekennzeichnet ist, findet seinen unmittelbaren Niederschlag in den konkreten politischen Machtverhältnissen; diese sind folglich für jeden einzelnen von unmittelbarer Bedeutung, da sie über die Weichenstellungen in der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft entscheiden, die ja doch das Leben eines jeden direkt betreffen.
In der Überzeugung, daß die Welt in ihrer gegenwärtigen Situation änderungsbedürftig ist, liegt ein ganz wesentlicher Anknüpfungspunkt an das Wirken Kolpings, das ja von einer entsprechenden Einschätzung der Gegenwart seinen Ausgang nahm. Auch heute reichen natürlich Unbehagen und Kritik nicht aus; notwendig ist wie eh und je das aktive Engagement des einzelnen in seinen konkreten Verhältnissen und mit seinen jeweils gegebenen Möglichkeiten. Drastisch formulierte Kolping unter diesem Aspekt einmal: „Wer bloß tadelt und nichts besser machen kann noch will, ist ein Lump.“
Ein Wirken in der Welt und für die Welt, das sich dem Wollen und Handeln Kolpings verpflichtet weiß, sich an diesem orientieren will, muß christlich begründet und geprägt sein, d. h. aus christlicher Weltverantwortung erwachsen und von christlichem Geist getragen sein. Bei allem möglichen und notwendigen Wandel in Zielen und Inhalten der Verbandstätigkeit kann dieses Grundelement doch nicht aufgegeben werden, ohne den Bezug zu Kolping zu verlieren.
Ein derartiges Wirken, das in seinen möglichen bzw. nötigen Schwerpunkten noch näher anzusprechen sein wird, ist heute kaum weniger aktuell als zur Zeit Kolpings. Gemeint ist dies: Auch, ja gerade heute erscheint es erforderlich, von christlicher Seite aus Möglichkeiten für eine positive Veränderung der Welt aufzuzeigen und die entsprechenden Beispiele zu geben, d. h. einen entsprechenden Weg zu gehen.
Der Einfluß des Christentums auf die Gestaltung der vielfältigen menschlichen Lebensverhältnisse, dessen Rückgang Kolping als entscheidende Ursache aktueller gesellschaftlicher Mängel empfand und den er, den gewandelten Zeitverhältnissen entsprechend, wieder zu verstärken suchte, ist seit jener Zeit gewiß nicht größer geworden, eher noch weiter zurückgegangen. Man muß nicht so weit gehen, jedwede Verbesserung irdischer Verhältnisse allein auf christlicher Grundlage für möglich zu halten, aber man kann und muß als Christ doch davon ausgehen, daß ein recht verstandenes christliches Verhalten — und zwar in allen Bereichen — am ehesten in der Lage ist, bestimmten Mängeln dieser Welt wirksam zu begegnen; man kann und muß von daher daran mitzuarbeiten suchen, daß — was nur ganz allgemein gesagt werden kann — der Einfluß des Christentums, d. h. konkret der Christen, in der Welt wieder zunimmt.
In unserer Zeit kommt es darauf an, daß die Christen in der weltanschaulichen Auseinandersetzung, in der sie stehen und deren Bedeutung durch den Indifferentismus großer Teile der Bevölkerung gewiß nicht verringert wird, nicht gewissermaßen kampflos das Feld räumen, sich nicht irgendwie von der Welt zurückziehen und sich mit der Klage über deren Schlechtigkeit begnügen. Es mag unter Christen durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber geben, in welchen Bereichen und in welcher Weise ein politisches und gesellschaftliches Engagement möglich bzw. nötig ist, auch darüber, mit welchen anderen Kräften eine Zusammenarbeit möglich und wo eine eindeutige Abgrenzung nötig ist; Einigkeit muß jedoch in der Überzeugung herrschen, daß überhaupt etwas getan werden muß, daß ein Engagement des einzelnen nötig ist.
Es gibt keine abgerundet ausformulierte, verbindliche christliche Gesellschaftstheorie im Sinne eines konkreten Programms zur Veränderung der Gesellschaft, in welchem sich klare Anleitungen zur Lösung aller anstehenden Fragen fänden. Ebensowenig gibt es ja auch eine im eigentlichen Sinne christliche Politik, sondern vielmehr nur ein politisches Wollen und Handeln der Christen. Wohl aber existiert in der katholischen Soziallehre — heute spricht man eher gewisser Rahmen theoretischer Grundpositionen, von dem das Engagement des einzelnen Anregungen und Orientierungen empfangen kann. Eben diese Soziallehre erscheint, recht verstanden und zeitgemäß fortentwickelt, als durchaus aktuelle und tragfähige Grundlage für ein gegenwartsbezogenes Wirken; sie kann sehr wohl als „konkurrenzfähige“ Alternative zu vergleichbaren theoretischen Konzeptionen anderer weltanschaulicher Richtungen gelten. Die Tatsache, daß ihr in der Vergangenheit ein relativ bescheidener praktischer Erfolg beschieden war, ihre Grundgedanken also eine im ganzen nur geringe Verwirklichung fanden, spricht gewiß nicht gegen die Ideen als solche, sondern weist nur auf, daß diese in unzureichendem Maße Einfluß auf das praktische Handeln der Menschen gewannen, speziell auf das der Christen, denen manche der dort zu findenden Grundsätze kaum weniger „unbequem“ waren und sind als etwa bestimmte sozialistische Positionen.
Mancher, der nach konkreten Handlungsanleitungen sucht, mag deren weitgehendes Fehlen in der katholischen Soziallehre als Mangel empfinden; im Grunde wird dies jedoch als Positivum verstanden. So wird zum einen der komplexen Vielfalt und Wandelbarkeit gesellschaftlicher Gegebenheiten und Bedingtheiten Rechnung getragen, gewissermaßen der Lebendigkeit der Wirklichkeit, der man mit umfassenden, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Programmen nicht gerecht zu werden vermag.
Der nur sehr allgemeine Rahmen, der je nach Zeit und Umständen konkret zu füllen ist, ist letztlich doch jeder schematisierenden, zur dogmatischen Starrheit tendierenden Programmatik überlegen, die nur zu leicht der Gefahr erliegt, die Wirklichkeit durch eine zu starke Vereinfachung verzerrt oder gar falsch zu sehen, was letztlich dazu führen kann, daß an den realen Interessen und Bedürfnissen der Menschen vorbeigegangen, diesen sogar zuwidergehandelt wird. Die Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart für eine derartige Verzerrtheit der Weltsicht bei ideologisch begründeten und bis ins Detail konzipierten Programmen zur „Weltverbesserung“ sind zu bekannt, um hier näher angesprochen werden zu müssen.
Ein zweiter wichtiger Vorzug der Beschränkung theoretischer Konzeptionen auf ein Fundament von Grundpositionen ist der, daß dem freien, verantwortlichen Handeln des einzelnen ausreichender Spielraum gewahrt bleibt, daß sich die freie Initiative des einzelnen entfalten kann und er nicht lediglich bestimmte, vorgegebene Programmpunkte zu erfüllen hat, hinter deren Verwirklichung er nicht unbedingt mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit seinem Gewissen stehen muß.
Bei Kolping dominiert die Gesinnungsreform eindeutig gegenüber der _Zuständereform; er gibt der Veränderung des Verhaltens den Vorzug gegenüber der bloß äußerlichen Veränderung von Strukturen, deren angemessener Wandel in seiner Sicht letztlich erst aus gewandelten Verhaltensweisen erwachsen kann. Betont wurde allerdings, daß hier nicht von Ausschließlichkeit die Rede sein kann.
Kolping selbst vielmehr in mancher Hinsicht durchaus auch den planvollen, gezielten Strukturwandel für möglich und nötig gehalten hat. Aus heutiger Sicht gibt es keinen Anlaß, diese Kolpingsche Position zu verwerfen; man muß sich freilich darüber im klaren sein, daß es in diesem Bereich lediglich um subjektive Überzeugungen geht, die nicht irgendwie beweisbar sind und folglich auch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können. Wenn heute der Vorrang des Bemühens um die Veränderung menschlicher Denk- und Verhaltensweisen betont wird, so ist damit natürlich wiederum die bewußte Abhebung von jenen Bestrebungen verbunden, die allein mit strukturellen Reformen oder gar mit revolutionärem Umbruch grundlegende und nachhaltige positive Veränderungen in der Welt erreichen wollen bzw. zu erreichen können glauben.
Immerhin muß jedoch heute auch diesem Bereich große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zum einen ist die gesellschaftliche Wirklichkeit in unseren Tagen ja weit mehr als früher zum Objekt des planenden und gestaltenden politischen Handelns geworden; zum anderen ist doch immer mehr das Bewußtsein von der zumindest teilweisen Abhängigkeit der Gesinnung von den Zuständen gewachsen, das Bewußtsein also von der Prägung des Verhaltens durch die jeweiligen sozialen Verhältnisse. Gemeint ist hier der durchaus richtige Kern der Marxschen These, daß das Sein des Menschen sein Bewußtsein prägt, von wo aus es nicht möglich ist, wirklich erfolgreich auf die Veränderung von Gesinnungen bzw. Verhaltensweisen hinarbeiten zu wollen, ohne zugleich an der Veränderung der dafür bestimmenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten. Beide „Seiten“ sind also in angemessener Weise zu berücksichtigen, jede einseitige Beschränkung würde der Wirklichkeit nicht gerecht werden, deren Gegebenheiten und Bedingtheiten uns heute im ganzen doch klarer, bewußter sind als den Menschen zur Zeit Kolpings, und zwar aufgrund der enormen Fortschritte in den Gesellschaftswissenschaften, die eigentlich erst in unserem Jahrhundert ihren entscheidenden Durchbruch hatten.
Die Überzeugung vom bedeutungsmäßigen Vorrang der Gesinnungsreform schließt auch heute das Bewußtsein ein, daß eine tiefgreifende Veränderung der Welt nicht in kurzen Zeiträumen zu erreichen ist. Jeder, der die Festigkeit, das Eingewurzelt-Sein grundlegender Einstellungen und Verhaltensweisen realistisch einzuschätzen vermag, wird notwendigerweise zu dem Schluß kommen, daß ein umfassender Wandel nur ganz allmählich erfolgen kann. Insofern ist die hier umrissene Position eine klare Gegenposition zu solchen Bestrebungen, die — oft genug durch einen Mangel an historischem Bewußtsein gekennzeichnet, dafür dann aber durch mehr oder weniger starke utopische Züge ausgezeichnet — einen weitreichenden Wandlungsprozeß in kürzester Zeit für möglich halten bzw. zu erreichen suchen. Natürlich ist ein solcher durch den revolutionären Umsturz aller bestehenden Verhältnisse äußerlich möglich, nur kann dies sicherlich keine grundlegende Veränderung der menschlichen Verhaltensweisen mit sich bringen, ohne die gewandelte Strukturen als solche noch keine besseren Lebensbedingungen für die Menschen mit sich bringen müssen.
Ein letztes: Ein Herangehen an die Probleme der Zeit aus christlicher Grundhaltung und Verantwortung muß die Tatsache im Blick haben, daß dem menschlichen Streben und Handeln stets etwas Unvollkommenes anhaftet, daß es grundsätzlich unzulänglich ist.
Diese Gewißheit darf keinesfalls als Entschuldigung für das eigene Nichts-Tun dienen, sie ist aber eine wichtige Voraussetzung für eine realistische Einschätzung des Möglichen und vermag gewissermaßen die Enttäuschung über real oder vermeintlich nur geringen Erfolg aufzufangen. Das Wissen, daß es menschlichem Bemühen nicht gelingen kann, ein Paradies auf Erden zu schaffen, ist jedenfalls ein Korrektiv gegenüber allen utopischen Ansätzen zur Veränderung der Welt, deren Wirklichkeitsferne sich in Vergangenheit und Gegenwart oft genug zum Schaden jener Menschen ausgewirkt hat, für die man sich mit bestem Willen einsetzte.
Kolping wollte die Mitglieder des Gesellenvereins zu umfassender persönlicher Tüchtigkeit heranbilden; sie sollten als tüchtige Christen in Familie, Beruf und Gesellschaft wirken können und so am Fundament für den erstrebten gesellschaftlichen „Neubau“ mitarbeiten. Zu fragen ist nun natürlich, wie es mit dieser Zielsetzung und den entsprechenden Aktivitäten heute aussieht, inwieweit hier angesichts der weitreichenden Veränderungen in der Welt und auch in Kolpings Werk selbst noch eine Grundlage für das aktuelle Arbeiten gegeben sein kann.
Für den, der Religion nicht als mittlerweile überflüssig gewordenes Hilfsmittel zur psychischen Bewältigung einer ungewissen und problemreichen Wirklichkeit versteht, bedarf es keiner näheren Begründung, wenn man sagt, daß der tüchtige Christ eine zeitlos gültige Notwendigkeit und Forderung ist, daß jeder einzelne also nach wie vor gefordert ist, sich selbst nach Kräften um die Erreichung dieses Zieles zu bemühen. Man muß auch kein religiöser Fanatiker sein, um ein größeres Maß praktischen, d. h. praktizierten Christentums _in unserer Welt für erstrebenswert.zu halten, in einer Zeit, in der die tätige Liebe im Sinne Kolpings gewiß nicht zu den vorherrschenden Merkmalen gehört, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß dies zu früheren Zeit sehr viel anders gewesen wäre. Was ein engagiertes Christ-Sein in unseren Tagen besonders aktuell erscheinen läßt, ist dies: Stärker als in der Vergangenheit ist es heute nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung bzw. -ausrichtung, ist es bewußte Alternative zu anderen Bindungen ‚und Orientierungen; und es ist mehr als zuvor — von der Urkirche einmal abgesehen — Sache individueller Entscheidung, bei der Herkommen und Gewohnheit eine zunehmend geringere Rolle spielen.
Im übrigen muß man keineswegs der Meinung sein, recht verstandener Fortschritt in der Welt sei überhaupt nur vom Christentum her möglich, lehrt doch die Erfahrung, daß positive Veränderungen auch von anderen weltanschaulichen Grundlagen aus möglich sind. Im Blick auf zwei Jahrtausende Geschichte des Christentums läßt sich auf der anderen Seite jedoch schwerlich eine wirklich umfassende und dem Menschen wirklich dienende Neugestaltung unserer Wirklichkeit, wie sie als Fernziel gegeben ist, ohne einen wesentlichen Beitrag von christlicher Seite denken; dieser aber kann letztlich doch in nichts anderem bestehen als in der Summe des Engagements der Christen in der Welt und für die Welt.
Die christlichen Kirchen befinden sich heute in einer mehr oder weniger deutlichen Krise, die Ausdruck einer gewissen Umbruchsituation ist, in der katholischen Kirche etwa seit dem zweiten Vatikanum besonders augenfällig. Ein Charakteristikum dieser Situation ist das immer geringer werdende Maß dessen, was_ als selbstverständlich und verbindlich gilt bzw. angesehen und angenommen wird. Mehr als früher und in weiterem Umfang als je zuvor werden kirchliche Strukturen und Aktivitäten diskutiert, kritisiert und in Frage gestellt, werden neue Formen kirchlichen Lebens und kirchlicher Ordnung gefordert oder bereits erprobt. Und nicht nur dies; in zunehmendem Maße werden auch Glaubensinhalte und grundlegende Verhaltensnormen Gegenstand von Diskussion und Kontroverse.
Das, was heute in der Kirche geschieht, entspricht in mancher Hinsicht der oben angesprochenen Tendenz zur „Öffnung“; auch im kirchlichen Bereich geht die Entwicklung — natürlich in engem Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen — hin zu einem stärkeren Pluralismus der Meinungen und Interessen und hin zur Ausweitung von Mitspracherechten, Entscheidungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten auf einen größeren Kreis von Menschen. Eine Folge dieser innerkirchlichen Entwicklungen — von manchen als Verfallserscheinungen bedauert und bekämpft, von anderen als Aufbruch, als notwendige Transformation begrüßt und gefördert, als notwendige Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirken der Kirche in der Welt von heute und morgen -— ist eine gewisse Verunsicherung weiter Kreise, die sich mehr oder weniger überraschend vor eine Situation gestellt sehen, in der vieles Gewohnte, Selbstverständliche, für unabänderlich Gehaltene ins Wanken gerät, fragwürdig wird und sich als doch wandelbar erweist.
Im Blick auf die gegenwärtige Situation der Kirche ist schließlich nicht zu übersehen, daß es nicht allein interne Schwierigkeiten und Probleme gibt; auch von außen tauchen sie in verstärktem Maße auf, wobei etwa nur die wachsende politische und weltanschauliche Gegnerschaft erwähnt sei, wie sie gerade in Tendenzen zur Reduzierung der öffentlichen Wirksamkeit bzw. der öffentlichen Wirkmöglichkeiten der Kirchen deutlich wird.
Bei der heutigen Meinungs- und Richtungsvielfältigkeit innerhalb der katholischen Kirche ist kaum eine einheitliche, allseitig akzeptierte Antwort auf die Frage zu erhalten, was es heute denn eigentlich heiße bzw. bedeuten müsse, Christ zu sein, wie sich dieses Christ-Sein manifestieren müsse. So kann man wohl auch heute noch die Meinung hören, alles komme darauf an, durch eine an bestimmten Normen ausgerichtete Lebensführung das individuelle Seelenheil zu erlangen; auf der anderen Seite finden sich Auffassungen, nach denen sich das Christ-Sein primär in einem bestimmten politischen Handeln äußern soll, wobei die Tendenz besteht, die christliche Botschaft allein als soziales Aktionsprogramm zu verstehen bzw. mißzuverstehen.
Mit Sicherheit läßt sich jedoch eines sagen: Unverkennbar ist in der Entwicklung seit der Zeit Kolpings eine stärkere Betonung der notwendigen Weltzugewandtheit und -verantwortung des Christen, eines im weitesten Sinne verstandenen sozialen Engagements, wie es dem Gebot der Nächstenliebe doch wohl angemessen ist.
Der Wiener Erzbischof König schreibt in der Zeitschrift „Deutsche Zeitung — Christ und Welt“ vom 30. August 1974: „Lange Zeit stand das Leitwort ‚Rette deine Seele‘ im Vordergrund. Von der Seele, vom Leben des anderen war dabei kaum die Rede. Ist es da nicht notwendig, daß wir heute erkennen, man könne Christ nicht allein sein, sondern immer nur in der Gemeinschaft. Ich kann meine Seele nicht retten, wenn die Seele meines Mitbruders und sein Leib verlorengeht. Die Frage beim Gericht lautet ja nicht, was hast du für dich, sondern was hast du für den anderen getan.“
Die Entwicklung zu einem stärkeren sozialen Bewußtsein der Kirche — bei der die katholischen Verbände eine wichtige Rolle gespielt haben, da sie von der Gleichzeitigkeit der kirchlichen Verwurzelung und des sozialen Engagements ihrer Mitglieder her gewissermaßen die Verbindung zwischen Kirche und Welt akzentuieren, die soziale Wirklichkeit sozusagen in das kirchliche Leben einbringen — bzw. der Christen liegt zweifellos ganz auf der Linie Kolpings, der hier doch bahnbrechend gewirkt hat, nach dessen Auffassung die Kirche ja eine wesentliche Aufgabe bei der Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse übernehmen konnte und sollte; eine Kirche, in der die oben bereits wiedergegebene Auffassung Kolpings Allgemeingut werden sollte, nach der es_keine wirkliche Trennung zwischen dem religiösen und dem sozialen Leben geben könne.
Kolping stellte, um den bürgerlichen Charakter des Gesellenvereins zu betonen, keine weitgehenden religiösen bzw. kirchlichen Anforderungen an dessen Mitglieder, nicht zuletzt auch von der Tatsache ausgehend, daß die Gesellen, denen er helfen wollte, weithin dem kirchlichen Leben entfremdet waren. Für eine starke Hervorkehrung des religiösen Elementes waren insgesamt keine geeigneten Voraussetzungen gegeben, eine solche hätte vielmehr, wie Kolping selbst verschiedentlich betonte, eine gewisse abschreckende Wirkung ausüben können. Auch heute ist das Kolpingwerk, das sich ja nachdrücklich als katholischer Verband versteht, keine im engeren Sinne religiöse Vereinigung; es ist auch keine kirchliche Einrichtung im dem Sinne, daß es nun in allen Belangen von der kirchlichen Hierarchie abhängig und in seinem konkreten Dasein völlig in kirchliche Strukturen integriert wäre.
Das Kolpingwerk ist im Wesen eine Laienvereinigung, die ihr Sein und Wirken eigenverantwortlich gestaltet, freilich in engem Bezug zur kirchlichen Organisation; es ist zudem nach den heutigen Vorstellungen und Aussagen über die Kirche, etwa in den Unterlagen der gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer, natürlich als solches Teil der Kirche, deren Auftrag in der Welt alle Glieder wahrzunehmen haben, wobei — in der Ganzheit dieses Auftrages, die nur schwerpunktmäßige Differenzierungen zuläßt, nicht aber qualitative Unterschiede hinsichtlich des konkreten Wirkens einzelner Gruppen — den Laien gerade das unmittelbare Wirken in der Welt, das konkrete soziale Engagement als spezifisches Aufgabengebiet zugewiesen ist; ein Wirken, das der einzelne sowohl für sich allein als auch gemeinschaftlich, eben im Rahmen der Verbände, vollziehen kann und soll.
Was nun den angesprochenen Ansatz Kolpings betrifft, so wird man ihn bei realistischer Einschätzung unserer Gegenwart als durchaus zeitgemäß verstehen können. Der unvoreingenommene Blick auf Motivation und Interessenlage der Mitglieder — gerade der jüngeren — zeigt jedenfalls, daß das religiöse Element beim Entschluß zur Mitgliedschaft und bei deren konkreter Ausgestaltung nicht — jedenfalls mehrheitlich nicht — im Vordergrund stand und steht.
Dies bedeutet freilich keineswegs, daß die weltanschauliche Gebundenheit des Verbandes abgelehnt oder als völlig irrelevant angesehen würde; es bedeutet ebensowenig zwangsläufig oder auch nur verbreitet ein Übersehen oder gar Ablehnen der Tatsache, daß das Kolpingwerk im angedeuteten Sinne Bestandteil der Kirche ist, daß die Mitarbeit in diesem Verband stets auch Mittun am Heilsdienst der Kirche ist, der heute eben in einem umfassenderen Verständnis gesehen wird. Erst recht bedeutet dies nicht, daß einem in weitem Sinne verstandenen religionspädagogischen Bemühen von seiten des Verbandes heute nicht breiter Raum eingeräumt werden sollte oder könnte. Im Gegenteil erscheint eine solche Arbeit gerade aufgrund der doch im ganzen recht geringen Voraussetzungen, die in diesem Bereich gegeben sind, sinnvoll und notwendig, und zwar in nicht geringerem Maße als zur Zeit Kolpings.
Kolping wollte seinerzeit die Gesellen zunächst einmal in ihren konkreten materiellen und sozialen Bedürfnissen ansprechen, ihnen gewissermaßen Sicherheit und Halt geben und von daher zur Fähigkeit und zur Bereitschaft führen, sich — ganz allgemein gesagt — anderen Dingen, außerhalb dieser unmittelbarsten persönlichen Bedürfnisse sozusagen, zuzuwenden; auf dieser Grundlage — gewissermaßen auf der Basis des „Heimisch-geworden-Seins“ — sollte dann aber dem religiösen Element sein gebührender Stellenwert zukommen, sollte es die seiner Bedeutung gemäße Berücksichtigung finden. Dies zum einen durch religiöse Bildungsarbeit, zum anderen durch die Anregung zur Teilnahme am kirchlichen Leben, zum dritten schließlich durch die anregende Hinführung zu praktiziertem Christentum, zu tätiger Nächstenliebe in allen möglichen Bereichen, nicht allein im Vereinsleben also, dem freilich eine besondere Beispielfunktion zugemessen wurde, wo ein tätiges Christentum erfahren, gelernt und geübt werden sollte. Dieses Konzept kann, in angemessener Weise auf die heutigen Verhältnisse übertragen, als durchaus praktikabel gelten, es kann sehr wohl den heutigen Bemühungen als grundlegende Orientierung dienen. Die angemessene Berücksichtigung der gewandelten Verhältnisse würde sich etwa darin auszudrücken haben, daß dem innerkirchlichen Pluralismus Rechnung getragen wird, etwa in einer sehr viel „offeneren“ Gestaltung der religiösen Bildungsarbeit, als dies zur Zeit Kolpings möglich war.
Ein wichtiger Aufgabenbereich wäre zudem die Förderung des innerkirchlichen Engagements der Mitglieder, wie es heute ja in verschiedener Weise möglich ist.
Bei allen Aktivitäten des Verbandes, bei denen es um den tüchtigen Christen in seiner gleichbleibenden Bedeutung geht, muß freilich bewußt bleiben, daß es stets nur um Anstöße, Anregungen und Hilfen gehen kann, kommt es hier doch in alles entscheidender Weise auf die persönliche Entscheidung und Verantwortung an. Man kann, anders gesagt, den einzelnen nicht unmittelbar zum tüchtigen Christen erziehen, sondern nur bestimmte Grundlagen schaffen, von denen aus er sein Christ-Sein manifestieren kann und muß, bei dessen konkreter Ausgestaltung ein bestimmtes Maß an Freiheit innerhalb gewisser Grenzmarkierungen gegeben sein muß, da der einzelne letztlich ja doch allein für sein Tun verantwortlich ist.
Sicherlich hatte Kolping im Grunde recht, wenn er der Situation der Familien eine wichtige Bedeutung für die konkrete Verfassung einer Gesellschaft zumaß. Noch immer ist es ja die Familie, in der die geistig-sittliche und die soziale Entwicklung des Menschen ihre entscheidenden Impulse empfangen, von der also Sein und Verhalten des Menschen in ganz wesentlichem Maße geprägt werden.
Gerade in unserer Zeit wird z. B. von sozialwissenschaftlicher Seite aus mit besonderem Nachdruck auf die zentrale Bedeutung einer intakten familiären Situation für die Entwicklung des Kindes hingewiesen, für eine gesunde, alle Möglichkeiten wahrnehmende und alle Notwendigkeiten berücksichtigende Persönlichkeitsentfaltung.
Freilich geht es nicht allein um das Kind und den Jugendlichen in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen; bedeutsam ist die familiäre Situation letztlich, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, für das ganze Leben. Man kann füglich bezweifeln, daß die Familie wirklich ein konkretes Modell für andere Sozialgebilde darstellen kann, die ja doch in struktureller und funktionaler Hinsicht ganz anderen Gegebenheiten und Bedingtheiten unterliegen; die soziale Bedeutung der Familie ist jedoch unbestreitbar, und sie ist auch durch die gesellschaftlichen Wandlungen seit der Zeit Kolpings nicht geringer geworden. Die Familie selbst ist von diesen Entwicklungen nicht unberührt geblieben. Ein wichtiger Aspekt ist etwa der des allmählichen Verschwindens der Großfamilie als eigenständigen sozialen Gebildes, aus dem sich wichtige Konsequenzen für die nun gewissermaßen auf sich gestellte Kernfamilie ergaben. Hier vollzogen und vollziehen sich etwa — freilich auch durch andere Faktoren mitbedingt — Veränderungen in der Rollenverteilung, kommt es zu einer allmählichen Auflösung oder Verwischung traditionell eindeutiger Funktionszuweisungen und -abgrenzungen, wobei man zusammenfassend von einem Trend zu mehr partnerschaftlicher Kooperation sprechen könnte. Dies hängt seinerseits eng mit der gewandelten und sich noch immer wandelnden Rolle der Frau in unserer Gesellschaft zusammen.
Nur sehr allgemein und sehr vorsichtig läßt sich von der Situation der Familie insgesamt sprechen, wenn man vorschnelle Vereinfachungen und unbegründete Pauschalurteile vermeiden will; die konkreten Gegebenheiten und Bedingtheiten — etwa hinsichtlich sozialer oder auch geographisch-kultureller Unterschiede — sind zu wenig einheitlich, als daß es möglich oder vertretbar wäre, in wenigen Strichen ein ausreichendes Gesamtbild zu zeichnen. Sicher ist, daß die Familie heute mehr als zuvor in der Diskussion ist. Während es auf der einen Seite Stimmen gibt, die die Familie im überkommenen Sinne für überlebt halten und die Erprobung neuer Formen des Zusammenlebens propagieren, ist auf der anderen Seite immer wieder die Auffassung zu hören, die Familie sei in der heutigen Zeit einer wachsenden Gefährdung oder Bedrohung ausgesetzt. Auch wenn man nicht in den Chor jener einstimmt, die überall eine systematische Untergrabung der Familie sehen, wird man wohl sagen müssen, daß die Lage der Familien heute gegenüber früheren Zeiten gewiß nicht leichter oder problemfreier geworden ist, auch wenn sich die gegebenen Schwierigkeiten in unseren Tagen in mancher Hinsicht anders darstellen als früher. So sind heute etwa Fragen wie die der angemessenen Arbeitsteilung innerhalb der Familie, einer familienfreundlichen Umwelt oder einer den Interessen und Bedürfnissen der Familie angemessenen staatlichen Sozialpolitik aktuell, die früher aufgrund anderer und auch sehr viel stärker geregelter Gegebenheiten und Bedingtheiten nicht in dem Maße von Interesse waren und sein konnten. Von nicht geringerer Bedeutung ist natürlich der vielfältige Komplex von Fragen und Problemen aus dem gewissermaßen internen Bereich des Familienlebens, z. B. der ehelichen Partnerschaft, der Familienplanung oder der Kindererziehung, wo aufgrund gewandelter Einstellungen und Verhaltensweisen und im Gefolge der raschen Zunahme und Verbreitung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse Konflikte und Unsicherheiten entstehen können und wo entsprechend ein akutes Bedürfnis nach Information und Hilfen gegeben ist.
Die Wandlungen und Probleme in der Situation der Familie finden ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Tatsache, daß die Familie im Laufe der Zeit in zunehmendem Maße Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden ist, daß die verschiedensten Einrichtungen zur Beratung und Unterstützung der Familien geschaffen wurden und daß schließlich die Familienpolitik zu einem wichtigen Bereich der sich immer weiter ausdehnenden staatlichen Sozialpolitik wurde. Was die letztere betrifft, so wird man — bei aller Anerkennung der Bemühungen und der geleisteten Arbeit — kaum um das kritische Fazit herumkommen, daß die Familienpolitik doch zu keinem Zeitpunkt so hilfreich und förderlich war, wie sie von den gegebenen Notwendigkeiten her hätte sein müssen.
Kolping maß der familienpädagogischen Arbeit im Gesellenverein eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Von den bisherigen knappen Ausführungen her ist wohl mit Recht hervorzuheben, daß hier für das Kolpingwerk auch heute ein wichtiges, umfangreiches Arbeitsfeld gegeben ist. Das Bemühen um die christliche Familie kann nicht aufgegeben und anderen Kräften überlassen werden, ohne damit eines der wesentlichen Grundelemente des Kolpingschen Wirkens aufzugeben. Die konkrete Ausformung eines entsprechenden Bemühens muß freilich den aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen entsprechen, wobei auch sorgfältig zu prüfen ist, was von Kolpings Gedankengut im einzelnen heute noch in das eigene Arbeiten einfließen kann. Wichtige neue Akzente für die aktuelle Arbeit ergeben sich aus der gewandelten Situation des Verbandes selbst. Durch die praktisch lebensbegleitende Mitgliedschaft ist familienpädagogische Arbeit in allen Lebensphasen möglich, der Tatsache entsprechend, daß die Grundlagen für eine angemessene Gestaltung des eigenen Familienlebens nicht in einem bestimmten Lebensabschnitt abschließend gelegt werden, daß es auch hier kein fest umrissenes Pensum gibt, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erlernbar wäre; dies sowohl aufgrund der unterschiedlichen Situation in den verschiedenen Lebensabschnitten als auch aufgrund des raschen, immer wieder neue Anpassungen erfordernden Wandels in den Daseinsbedingungen der Menschen.
Eine ganz neue Situation ergibt sich sodann aus der Mitgliedschaft von Frauen und Mädchen im Kolpingwerk; sie bietet die Möglichkeit, unmittelbar in und mit den Familien zu arbeiten, sie erlaubt in der Arbeit mit den jungen Menschen eine intensivere, konkretere Vorbereitung auf das spätere Familienleben, und schließlich kann durch das Einbeziehen ganzer Familien in den örtlichen Verein dessen Leben und Wirken durchaus einen stärkeren familienhaften Charakter in dem Sinne erhalten, wie ihn Kolping anstrebte.
Bewußt wird hier freilich nur von Möglichkeiten gesprochen; ihre Realisierung ist keineswegs eine zwingende Notwendigkeit, sondern hängt von einer ganzen Anzahl von Faktoren ab, zunächst einmal schon von der bedauerlicherweise wohl noch immer nicht allgemeinen Bereitschaft bestehender Kolpingsfamilien, überhaupt weibliche Mitglieder aufzunehmen bzw. voll zu integrieren. Eingewurzelte Vorurteile und die Scheu vor der Aufgabe gewohnter, überkommener Verhältnisse dürften die Hauptgründe für die hier zu beobachtende „Zurückhaltung“ sein.
Das Bemühen, dem weitgehend bindungslosen Gesellen in der Zeit zwischen dem Verlassen des Elternhauses und der Gründung einer eigenen Familie eine gewisse familienhafte Geborgenheit zu geben, wie es für Kolping im Vordergrund des Interesses stand, ist heute aufgrund der im Verband selbst wie in der Gesellschaft insgesamt eingetretenen Veränderungen nicht mehr von vergleichbarer Bedeutung oder Aktualität, wenngleich — unter anderen Vorzeichen — keineswegs gegenstandslos. Für das heutige familienpädagogische Bemühen im Verband erscheint eine umfassende Bildungsarbeit als wichtigster Aufgabenbereich, die sich in den verschiedensten Formen vollziehen kann und für die ein breites Spektrum möglicher Themen gegeben ist, auf das hier nicht im einzelnen eingegangen werden muß. Bildung sollte allerdings nicht in einem engen Sinne als reine Wissensvermittlung verstanden werden; zu diesem Aufgabenkomplex gehören natürlich auch die vielfältigen Formen einer konkreten Beratung in den anstehenden Fragen und Problemen. Eine wichtige Aufgabe des Verbandes — und zwar auf allen Ebenen — ist darüber hinaus in der Förderung der Interessen der Familie in der Gesellschaft zu sehen, ein Wirkbereich, der über das innerverbandliche Geschehen hinausgreift und bis in den Bereich gesellschaftspolitischer Aktivitäten hineinreichen kann und muß.
Das Bemühen um die christliche Familie, das von der wesentlichen sozialen Bedeutung der Familie ausgeht und so unmittelbare Bedeutung für die gesellschaftliche Wirklichkeit insgesamt hat, muß natürlich von einer festen Grundlage im Sinne allgemein akzeptierter und einheitlich vertretener Positionen ausgehen, muß gewissermaßen von einem Gerüst eindeutiger und verbindlicher Zielvorstellungen und Wertorientierungen getragen sein. Wichtig ist jedoch, daß ein solches theoretisches Fundament flexibel ist, offen gegenüber dem sich ständig vollziehenden gesellschaftlichen Wandel, und daß es darüber hinaus den Spielraum zur Entfaltung verschiedenster Aktivitäten und zur Verfechtung unterschiedlicher Einzelpositionen gewährt, der auch hier angesichts der faktisch gegebenen und auch legitimen Pluralität von Meinungen und Verhaltensweisen notwendig ist.
Weitreichende Veränderungen sind im verflossenen Jahrhundert in der Arbeitswelt vor sich gegangen. Zahlreiche Berufe sind in dieser Zeit gänzlich verschwunden oder doch in ihrer Bedeutung stark zurückgegangen, vor allem im Gefolge der Industrialisierung
und Technisierung der Welt, durch die sich zudem die ‚Arbeitsbedingungen vielfältig gewandelt haben, beispielhaft deutlich an der Automation, also der zunehmenden Übernahme manueller Arbeitsvorgänge durch Maschinen. Auf der anderen Seite ist eine Vielzahl neuer Tätigkeitsbereiche entstanden, haben sich neuartige Berufe herausgebildet, wobei die Entwicklung durch die oben bereits angesprochene Tendenz zur Differenzierung und Spezialisierung gekennzeichnet ist, in den beruflichen Tätigkeiten selbst wie auch entsprechend — in den Ausbildungsgängen. Im Vergleich mit der Zeit Kolpings sind Berufsbildung und -ausübung jedenfalls heute in weit stärkerem Maße geregelt und gesichert, festen Bestimmungen der verschiedensten Art unterworfen; sie sind, ganz allgemein gesagt, in zunehmendem Maße Objekt planender und regelnder Maßnahmengeworden. …
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