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Kolping und Wichern:

Pioniere kirchlicher Sozialarbeit

Im Rahmen des Programms „auf dem Weg zum 2. Ökumenischen Kirchentag“ (ÖKT) haben katholische und evangelische Studenten eine Ausstellung über Adolph Kolping und Johann Hinrich Wichern gestaltet. Vor dem ÖKT war die Ausstellung im März bereits auf der Internationalen Handwerksmesse in München zu sehen.

Die aktuelle Bedeutung von Johann Hinrich Wichern und Adolph Kolping, zwei Pionieren kirchlicher Sozialarbeit im 19. Jahrhundert, ist Gegenstand einer ungewöhnlichen ökumenischen Kooperation: Das Oberseminar der Evangelischen Diakonenschule Rummelsberg bei Nürnberg, das katholische Kolpingwerk, der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt und der Lehrstuhl Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München erarbeiteten im Rahmen eines Seminars eine Ausstellung für die Internationale Handwerksmesse im vergangenen März in München sowie für den 2. Ökumenischen Kirchentag, der im Mai in München stattfand.

Die Ausstellung, die von Studierenden entwickelt und durchgeführt wurde, thematisiert die aktuelle Bedeutung von Kolping und Wichern als Pionieren kirchlicher Sozialarbeit. Ihr Wirken hat noch heute überraschende Potentiale für eine Neuorientierung in den gegenwärtigen Umbrüchen in Arbeitswelt, Sozialpolitik und sozialer Marktwirtschaft. Diese werden in den folgenden Thesen erläutert.

1. Johann Hinrich Wichern und Adolph Kolping sind Wegbereiter für eine „Sozialpolitik von unten". Ihre Initiativen enthalten auch heute noch ein richtungsweisendes Potential für soziale Verantwortung in Kirche und Gesellschaft.

Adolph Kolping (1813-1865) und Johann Hinrich Wichern (1808-1881) haben aus der Erfahrung konkreter menschlicher Not heraus im 19. Jahrhundert die soziale Arbeit der Kirchen mit begründet. Die Untersuchung der bemerkenswerten Parallelen in der Art und Weise, wie Kolping und Wichern im Geist des Evangeliums auf die Not ihrer Zeit geantwortet haben, kann eine ökumenische Sozialethik befruchten.

Gemeinsamkeiten zeigen sich u. a. bei folgenden Punkten:

❏ Beide sind Wegbereiter einer „Sozialpolitik von unten“, die wesentlich auf vier Faktoren beruht, nämlich erstens Bildung, die zugleich ganzheitlich ausgerichtet und in konkrete Ausbildung eingebunden ist, zweitens Schaffung familienähnlicher Strukturen, die Gemeinschaft und sozialen Rückhalt vermitteln, drittens hohe Wertschätzung insbesondere der handwerklichen Arbeit und viertens Glaube und Kirche als konkrete Orte der Orientierung, Ermutigung und sozialen Verantwortung.

❏ Beide haben mit ihren sozialpädagogischen Initiativen den Boden für eine diakonische Kirche im Kontext der modernen Arbeitswelt bereitet und Strukturen geschaffen, die das soziale Profil der Kirchen in Deutschland bis heute prägen. Sie haben damit zugleich wichtige Brücken zwischen Kirche und Gesellschaft geschlagen und die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland maßgeblich beeinflusst.

❏ Beide waren intensiv publizistisch tätig: Wichern hat mit seinen „Fliegenden Blättern“ seine pädagogischen und sozialpolitischen Ideen und das Konzept des „Rauhen Hauses“ in ganz Deutschland bekannt gemacht. Kolping war einer der ersten erfolgreichen katholischen Publizisten. Beide haben auf den ersten Kirchen- bzw. Katholikentagen viel beachtete Reden gehalten. Sie haben in beispielhafter Weise das soziale Gewissen der Kirchen wachgerüttelt und Initiativen angeregt. Sie können Vorbild sein, wie sich die Kirchen heute unter veränderten Bedingungen in sozialpolitischen Fragen einmischen und wirksame Hilfen in den Bereichen Bildung, Arbeit, Familie und Glaube für junge Menschen ermöglichen.

 

2. Der gegenwärtige Umbruch der Arbeitswelt fordert neue Wege der Bildung, Ausbildung und sozialer Sicherung gerade auch im handwerklichen Bereich. Auf den Wegen von Kolping und Wichern bieten die Kirchen hier praktische Orientierung.

Die Entstandardisierung von Arbeit sowie die vielschichtige Krise von Bildung und Ausbildung führen zu einer tiefen Verunsicherung der Arbeitnehmer und der gesamten Wirtschaft. Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das in der christlichen Sozialethik eine wesentliche Grundlage hat, war Basis des wirtschaftlichen Erfolges von Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Es muss heute jedoch angesichts veränderter Bedingungen neu gestaltet werden, um Wohlstand und Gerechtigkeit für alle zu sichern. Neben staatlichen Maßnahmen (z. B. Mindestlöhne, wirksame Regulierungen der Finanzmärkte, Begrenzung von Managergehältern, Schutz der natürlichen Umwelt) bedarf es auch sozialer Initiativen von unten im Rahmen einer aktiven Zivilgesellschaft sowie neuer Formen von Bildung und Ausbildung in Betrieben.

In einer prekären Arbeitswelt gewinnt die Vermittlung und Aneignung von Kompetenzen, die es jungen Erwachsenen ermöglicht, die vielschichtigen Herausforderungen kreativ zu bewältigen und sich an veränderte Bedingungen anzupassen, zentrale Bedeutung. Gerade in Umbruchprozessen brauchen junge Menschen verstärkt persönlichen Rückhalt, soziale Kompetenzen und eine sinnstiftende Orientierung. Für eine solche Bildung bieten sich vielfältige Anknüpfungen an Wichern und Kolping sowie die zeitgemäße Weiterentwicklung ihrer Initiativen an. Sie stehen mit einigen anderen Persönlichkeiten ihrer Zeit für Hilfe zur Selbsthilfe durch eine Bildung, die menschlich-soziale Kompetenzen fördert und in eine konkrete Ausbildung eingebunden ist. Wertschätzung und Zuwendung, die dem Einzelnen hilft, seine Fähigkeiten zu entdecken, ist der Schlüssel für pädagogischen Erfolg, wie Wichern und Kolping zusammen mit vielen anderen (z. B. Don Bosco) gezeigt haben. Beide verstanden Bildung als Basis eines mündigen, selbstbestimmten und erfüllten Lebens auch für sozial am Rande Stehende, was heute in gleicher Weise aktuell ist. Das Motto des 2. Ökumenischen Kirchentages 2010 in München „Damit ihr Hoffnung habt“ wird in der praktischen Hilfe in Berufsausbildung und Sozialisation der jungen Menschen konkret. Der aktuelle Mangel an qualifizierten und motivierten Handwerker-Lehrlingen zeigt, wie sehr dieser fundamentale Bereich der praktischen Bildung in Deutschland seit langem vernachlässigt wurde.

 

3. Durch diakonisches und zivilgesellschaftliches Engagement haben die Kirchen große Chancen und Mitwirkungspflichten für die Ermöglichung einer gerechten Gesellschaft.

Kolping und Wichern haben neue Wege für die Lösung der Sozialen Frage aufgezeigt und sind durch die Gründung der Inneren Mission bzw. der Gesellenvereine, aus denen das Kolpingwerk entstanden ist, sowie durch ihre intensive publizistische Tätigkeit in hohem Maße wirksam geworden. Die von ihnen begründeten Initiativen und deren Weiterentwicklungen sind noch heute Ausgangspunkt für einen Glauben und eine Kirche, die zu sozialer Verantwortung befähigen:

Die von Wichern auf dem Kirchentag 1848 angeregte und 1849 begründete Innere Mission, ist in freien Vereinen organisiert und im Verband zusammengeschlossen. Mit dem Zusammenschluss von Evangelischem Hilfswerk und Innerer Mission ist seit 1957 der Name Diakonie in Gebrauch, als die Innere Mission der helfenden Hand der evangelischen Kirche, um den jeweiligen Nöten der Zeit zu begegnen. Auch mit der Neubelebung des Diakonats in der evangelischen Kirche unterstrich Wichern „das Bekenntnis des Glaubens durch die Tat der rettenden Liebe“. Unzählige Gründungen von Einrichtungen, Werken und Wichernhäusern, besonders auch im Bereich der Jugendhilfe, sind auf die Initiative Wicherns zurückzuführen. Die Innere Mission und infolge die Diakonischen Werke der evangelischen Kirche in Deutschland zählen heute zu den wesentlichen tragenden Säulen des Sozialstaates. Die Diakonie unterhält vielfältige Förderangebote der Jugendhilfe, Einrichtungen der Berufsausbildung und sucht neue Wege der Begleitung mit Streetwork und Jugend-Sozialarbeit. In der Bildung setzt sich die Diakonie für Chancengleichheit ein. Alle jungen Menschen sollen entsprechend ihrer Fähigkeiten und Begabungen gefördert werden. Die Rummelsberger Hilfe für junge Menschen drückt das kurz und treffend so aus: „Keiner darf verloren gehen“.

Der von Adolph Kolping 1849 gegründete katholische Gesellenverein ist heute zum Kolpingwerk geworden, einem Verband engagierter Christen, offen für alle Menschen, die auf der Grundlage des Evangeliums und der katholischen Soziallehre/christlichen Gesellschaftslehre Verantwortung übernehmen wollen. Die Mitglieder sind in Kolpingsfamilien organisiert, die sich als Weggemeinschaft der Generationen verstehen. Schwerpunkte des heutigen Handelns ist die Arbeit mit und für junge Menschen, das Engagement in der Arbeitswelt, die Arbeit mit und für die Familie und der Einsatz für die Eine Welt. Die Mitglieder engagieren sich in demokratischen Parteien und Parlamenten und wirken in der wirtschaftlichen und sozialen Selbstverwaltung mit. Persönliche und berufliche Bildung und ständiges Lernen sind Voraussetzung für eine eigenverantwortliche und dem Gemeinwohl verpflichtete Lebensgestaltung, deshalb werden in professionellen Kolpingeinrichtungen und -unternehmen in allen deutschen Bistümern die Bereiche Bildung, Qualifizierung und Beschäftigung und insbesondere Benachteiligtenförderung groß geschrieben. Das Leitbild des Kolpingwerkes sagt dazu: „Wir wollen, dass jeder seine Chance erhält.“

Aus der wesentlich von Wichern und Kolping angeregten Verknüpfung von sozialer Hilfe und Evangelisierung ist heute ein beachtliches Netzwerk des professionellen kirchlich-sozialen Engagements entstanden: Bundesweit setzen sich mehr als 450000 hauptamtlich Mitarbeitende in über 27000 selbstständigen Einrichtungen der Diakonie und etwa ebenso viele im Rahmen der Caritas für andere Menschen ein. Im Kolpingwerk sind in Deutschland heute 260000 Mitglieder, weltweit 500000 Menschen in über 60 Ländern engagiert. Als freie Träger von Bildungsarbeit übernehmen Diakonie und Kolpingwerk gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Wicherns und Kolpings weltweite Perspektive zeigt sich heute in den internationalen diakonischen Hilfsaktionen wie „Brot für die Welt“ und der Sozial- und Entwicklungshilfe des Kolpingwerkes. Dort wird materielle Hilfe durch konkrete Projekte im Bereich Berufsausbildung, Kleingewerbeförderung, ländliche Entwicklung, Gesundheitsdienste, Förderung von Kindern und Jugendlichen, Soforthilfen bei Naturkatastrophen geleistet. Schwerpunkte sind dabei die Selbsthilfegruppen.

Wichern hat dazu beigetragen, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche auf neue Beine zu stellen. Er wollte keinen christlichen Staat, aber eine durch soziales und politisches Engagement gemäß christlichen Werten geprägte Gesellschaft. Auf politischer Ebene hat er durch Kontakte zu einflussreichen Personen in Politik und Wirtschaft nicht zuletzt auch die Sozialpolitik von Bismarck indirekt beeinflusst und ermöglicht. Im vertrauten Miteinander des „Rauhen Hauses“ und anderer Einrichtungen sowie durch das gemeinsame Feiern christlicher Feste hat er gelebten Glauben vermittelt und – z. B. durch die Erfindung des Adventskranzes – die Volksfrömmigkeit bis heute geprägt. Mit seiner Forderung, alle Bevölkerungsschichten zu bilden, etwa durch Gründung von Bibliotheken und durch die „Fliegenden Blätter“, als Fachzeitschrift zur sozialen Situation in Deutschland, hat er zu sozialer Aufklärung und Volksbildung beigetragen. Dieser Geist sozialer Innovationen ist auch heute notwendig.

Der katholische Priester, Sozialreformer, Pädagoge und Publizist Adolph Kolping hat vor allem durch seine Impulse für die Entstehung des katholischen Verbandswesens die kirchliche und sozialpolitische Entwicklung in Deutschland maßgeblich beeinflusst. Er steht für die erste geglückte große katholische Sozialinitiative. Seine eindringliche Forderung, dass sich die Kirche nicht von der sozialen Frage zurückziehen dürfe, ist heute in neuer Weise angesichts der globalen Herausforderungen sowie der Umbrüche in Familienbildern, Arbeitwelt und Bildung aktuell.

Auf den Spuren von Kolping und Wichern sind dies Herausforderungen, das christliche Profil im sozialen Handeln zu stärken und tätige Liebe als Grundprinzip von Glaube und Kirchesein zu entfalten. Ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement, wie sie es vorbildlich angeregt haben, sind auch heute ein Schlüssel für unbürokratische Hilfe sowie für Lebensqualität, deren Maß nicht Besitz oder Konsum ist, sondern soziale Einbindung und Anerkennung. Ohne solches zivilgesellschaftliches Engagement hätten sich die Sozialpolitik des Staates und damit auch das spätere Modell der Sozialen Marktwirtschaft nicht in der Weise entfalten können, wie es für Deutschland prägend geworden ist.

Kirchliche Verbände, Bildungs- und Sozialarbeit sowie das vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass aktuelle sozialpolitischen Stellungnahmen der Kirchen (z. B. die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ oder die EKD-Schrift „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“) mit Leben gefüllt werden und über eine punktuelle Diskussion in den Medien hinaus Wellen schlagen können.

Text und Wissenschaftliche Begleitung
 Prof. Dr. Markus Vogt, LMU München
 Kirchenrat Reiner Schübel,
 Evang. - Luth. Landeskirchenamt

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