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Dr. Michael Hanke war Bundessekretär des Kolpingwerkes

Kolpings Idee

Eine Beschreibung von Dr. Michael Hanke, Köln

Adolph Kolping – einst und jetzt

1. Nöte der Zeit

In seiner Schrift ‚Der Gesellenverein’ von 1848 (veröffentlicht 1849) beschreibt Adolph Kolping die Lage des Handwerks und speziell des Gesellenstandes um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das ziemlich düstere, überwiegend von negativen Beurteilungen geprägte Gesamtbild fasst er in folgenden Hinweisen zu aktuellen Defiziten hinsichtlich der Lebenssituation der Gesellen zusammen:

Was dem jungen Handwerker zunächst fehlt, ist ein kräftiger moralischer Halt im Leben, eine freundlich zurechtweisende Hand, eine wenn auch von weitem um ihn wandelnde liebende Sorge, die sein Vertrauen verdient. Jeder fühlt sich aber recht eigentlich behaglich unter seinesgleichen. Den genannten moralischen Halt müsste man ihm eben bei und mit seinen Genossen geben können. Wer ihn weisen und leiten soll, zu dem muss er von Natur aus eine gewisse Neigung haben und seiner tätigen, uneigennützigen Sorge bei vorkommenden Fällen versichert sein.

Weiter fehlt ihm zumeist die Gelegenheit, sich außer der Werkstätte und dem Wirtshause irgendwo behaglich niederzusetzen und wenigstens eine Weile sich mit ernsten, ihn bildenden Dingen zu befassen. Das Bedürfnis dazu liegt in der Natur des Menschen ... Es fehlt dem jungen Arbeiter ein Zufluchtsort außer der Herberge und dem Wirtshause, wo er recht eigentlich eine Weile rasten und Nahrung für seinen Geist erhalten könnte, die, auf ihn berechnet, ihm zusagen müsste.

Es fehlt ihm ferner die Gelegenheit, sich für seinen Beruf, für seine Zukunft gewissermaßen auszubilden, abgesehen von der technischen Fertigkeit, welche ihm die Werkstätte des Meisters mitgeben soll.

Noch mehr fehlt ihm eine passende, Geist und Gemüt wahrhaft aufrichtende und stärkende Unterhaltung und Erheiterung, wie er sie weder zu Hause noch im Wirtshause noch an öffentlichen Vergnügungsorten erhält. Auch muss die Religion wieder wachgerufen und aufgefrischt werden in seinem Herzen, indem ihm wieder ein lebhafteres Interesse dafür eingeflößt wird. Deshalb müssen seine Kenntnisse in dieser Beziehung erweitert und ihm Gelegenheit geboten werden, seines Glaubens wieder froh zu werden.

Dann mangelt ihm zuletzt noch die Gelegenheit, von Herzen tätig zu sein mit und für andere. Auch sein Herz will Gegenstände haben, an denen seine Liebe sich übt.

 

Kolping gibt’s sich nun aber – anders als die meisten seiner Zeitgenossen – nicht mit der bloßen Feststellung solcher Problemlagen zufrieden, und er schiebt auch die Verantwortung zu ihrer Behebung nicht irgendwohin ab. Er selbst will ‚Abhilfe’ schaffen und seinen Beitrag zur Linderung der Nöte seiner Zeit in einem ganz konkret umrissenen gesellschaftlichen Umfeld leisten. Dabei hat er in dem 1846 in Elberfeld entstandenen katholischen Gesellenverein, dessen Präses er 1847 geworden war, ein in seiner Sicht brauchbares ‚Instrument’ gefunden. Dieser Verein widmete sich ganz und gar praxisorientiert den Handwerksgesellen, um sie auf ihrem weiteren Lebensweg zu unterstützen, ihnen Hilfestellung zu leisten bei ihrer persönlichen, beruflichen und dann auch gesellschaftlichen Entfaltung und Standortfindung. Formulierungen wie ‚Hebung des Handwerkerstandes’ oder sogar ‚Rettung des Handwerks’ sind in diesem Zusammenhang zu verstehen.

Im zweiten Teil der genannten Schrift stellt Kolping die Konzeption des Gesellenvereins vor. In der Praxis haben sich die entsprechenden Grundzüge über lang Zeit – ja z.T. bis heute, d.h. in die aktuelle Verbandsarbeit hinein – erhalten, auch wenn sich im Laufe der Zeit, beginnend mit der Gründung des Kölner Vereins 1849, immer wieder Ergänzungen resp. Erweiterungen und auch Veränderungen ergeben haben oder auch ergeben mussten, bedingt sowohl durch den – im weitesten Sinne verstandenen - sozialen Wandel im Ursprungsbereich des Verbandes als auch durch dessen wachsende internationale Ausbreitung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Zentraler Bestandteil der Angebote des Vereins waren die Vortragsabende am Sonntag und Montag. War der Sonntag dem Religionsvortrag vorbehalten, so ging es am Montag um Themen im breiten Spektrum der die Gesellen interessierenden bzw. betreffenden Fragen.

Die zweite Säule der Angebote/Aktivitäten war der regelmäßige Unterricht in verschiedenen Fächern, wiederum in starkem Maße abhängig von den konkreten örtlichen Gegebenheiten (Mitglieder, Vereinslokal, Lehrkräfte, etc.). Durchgängig - also mehr oder weniger flächendeckend im Verband - finden wir hier die sog. ‚Kernfächer‘, d.h. ‚Schreiben‘, ‚Lesen’ und ‚Rechnen‘, was im Übrigen ein nicht besonders ‚rühmliches’ Licht auf das damalige allgemeine Schulwesen wirft! Daneben finden sich auch ‚Zeichnen‘ und ‚Gesang‘, weiterhin - mit wachsender Differenzierung im lokalen Kontext, aber noch immer typisch, d.h. weit verbreitet - ‚Geographie‘, ‚Geschichte‘, ‚Naturkunde‘ und ‚Mathematik‘, schließlich auch speziellere Bereiche wie etwa ‚Deklamation‘, ‚deutsche Sprache‘, ‚Buchführung‘, ‚Französisch‘, ‚Physik‘, und ‚Modellieren‘.

Hier wird deutlich, dass der Verein mit dem Blick auf die angestrebte Befähigung seiner Mitglieder, einmal die berufliche Meisterschaft und damit die Selbständigkeit zu erreichen, ganz konkret tatsächliche Defizite in der schulischen Bildung resp. in der Lehrzeit beheben wollte: Neben der rein fachlichen Qualifikation, die in der Ausbildung (Lehre) vermittelt wurde (werden sollte), brauchte ein künftiger Meister natürlich weitergehende Qualifikationen, nämlich die zu einer – ganz allgemein gesagt – qualifizierten Geschäftsführung eines Handwerksbetriebes, für die es aber im behandelten Zeitraum im Grunde keine adäquaten Angebote gab. Eine wirklich umfassende ‚Neuorganisation’ des Handwerks (Stichwort ‚Handwerksordnung’) mit den entsprechenden Konsequenzen (Prüfungen, Befähigungsnachweise, etc.) ist tatsächlich ja erst zum Ausgang des 19. Jahrhunderts gelungen!

Gegenüber der herausragenden Bedeutung der Bildungsarbeit im Gesellenverein darf allerdings nicht übersehen werden, dass dem individuellen Besuch des Vereinslokals hohe Bedeutung zukam und auch zugemessen wurde, also dem Selbststudium und dem geselligen Beisammensein. Kolping sieht z.B. einen für die Wirksamkeit des Vereins mit entscheidenden Faktor darin, dass die Gesellen sich fleißig im Vereinshause einfinden, dass sie ihre freien Stunden daselbst zubringen. In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt die von allen Vereinen so rasch wie möglich eingerichtete und so reichhaltig wie möglich ausgestattete Bibliothek im Blick, zu deren Bestand in der Regel auch aktuelle Zeitungen und Zeitschriften gehörten.

Hier wird ein gewichtiges ‚individuelles’ Moment im Prozess der eigenen Lebensgestaltung deutlich: Es kommt nicht nur darauf an, entsprechende ‚formale’ Angebote zu nutzen; wichtig sind zudem die entsprechende Bereitschaft und Fähigkeit, ganz unmittelbar für sich, aber auch gemeinsam mit anderen sowohl im Selbststudium als auch in ‚geselliger Kommunikation’ relevante Möglichkeiten für die eigene – im weitesten Sinne verstandene – Entwicklung zu nutzen. Immer wieder also der Gedanke der Eigenverantwortlichkeit! Hinzu kommt gerade auch in diesem Zusammenhang die Kolping dem Präses zugewiesene Rolle, der für ‚seine’ Gesellen in ganz umfassendem Sinne Ansprechpartner sein sollte.

Neben der Bildungsarbeit spielen die Vereinsfeste eine wichtige und wachsende Rolle. Vor allem das ‚Stiftungsfest‘ wird durchgängig in allen Vereinen jährlich zur Erinnerung an die Vereinsgründung gefeiert. Sehr früh wird, und zwar nicht nur im Kölner Gesellenverein, auch das ‚Josefsfest‘ begangen; immerhin war der heilige Josef durch die erste Generalversammlung 1850 (zugleich die Geburtsstunde des Verbandes) zum Patron des Werkes erwählt worden. Andere Festlichkeiten folgten den lokalen resp. auch regionalen - weltlichen wie kirchlichen - Gegebenheiten, z.B. Bälle, Karnevalsveranstaltungen, etc. Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass gerade die Vereinsfeste häufig zu überörtlichen Kontakten genutzt wurden. Ähnliches gilt im Übrigen auch für sonstige gesellige Unternehmungen wie z.B. Ausflüge.

Als letzter Aspekt der Vereinstätigkeit muss die schon frühzeitig beginnende Herausbildung spezieller ‚Gruppierungen‘ oder ‚Abteilungen‘ im weiten freizeitkulturellen Bereich genannt werden. Zunächst treten hier Chöre und Theatergruppen in Erscheinung, die sich natürlich auch mit entsprechenden Auftritten in die Öffentlichkeit begaben. In späterer Zeit kommen im sportlichen Bereich entsprechende Aktivitäten (z.B. Schützen- und Turnabteilungen) auf.

Kolpings ‚ganzheitlicher Ansatz’ wird hier deutlich: Nicht allein der eigenen beruflichen Qualifikation dient der Verein, sondern auch der im weitesten Sinne verstandenen personalen Entfaltung, wo das ‚Miteinander’ gefragt ist und damit auch Mitverantwortung für die entsprechenden Bemühungen.

 

Damit aber nicht genug: Das erste Statut des Kölner Gesellenverein von 1850 zählte ‚gegenseitige Hilfe in der Not’ zu den in der Präambel angegebenen ‚Mitteln zum Zweck‘. In der ältesten Fassung der Allgemeinen Statuten von 1850 ist bestimmt, dass sich die Mitglieder untereinander gegenseitig zu Schutz und Pflege verpflichten.

Damit war ein entscheidender Begründungsansatz für das Entstehen spezieller verbandlicher Einrichtungen geliefert, die sich von den Anfängen an in vielfältiger Weise entwickelt haben, und zwar nach und nach auf allen Ebenen des Verbandes. Dabei handelte es sich zunächst wesentlich um (lokale) ‚Selbsthilfeeinrichtungen‘: Der Verein übernahm gemeinschaftlich getragene und verantwortete Aufgaben in Bereichen, wo tatsächlicher aktueller Handlungsbedarf gegeben war, der in dieser Weise (noch) nicht anderweitig abgedeckt war oder werden konnte. Entstehung und Entwicklung solcher Einrichtungen standen und stehen bis heute natürlich in einem engen Kontext mit relevanten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die sowohl zur Veränderung oder auch Aufgabe bestimmter Einrichtungen führen als auch immer wieder neue Handlungsfelder eröffnen konnten oder mussten.

Als erstes und ältestes Beispiel tritt uns die Krankenkasse des Kölner Gesellenverein vor Augen; ihr Statut wurde als Anhang der Vereinssatzung von 1850 veröffentlicht, ihre Anfänge reichen also bis in die Gründungsphase dieses Vereins zurück. Jedes Mitglied ist nach § 27 des Vereinsstatuts verpflichtet, der Krankenkasse des Gesellenvereins beizutreten; jedes Mitglied, das dem Verein länger als drei Monate angehört, hat Anspruch auf Unterstützung im Krankheitsfalle, und zwar dann, wenn es länger als eine Woche wirklich und vollständig arbeitsunfähig ist, und nur dann, wenn die Krankheit nicht durch eigene Verschuldung herbeigeführt wurde. Die Dauer der Unterstützung beträgt im Regelfalle längstens ein Jahr und sechs Wochen. Sie beträgt bei häuslicher Pflege 2 Taler pro Woche; alternativ wird die Verpflegung im Bürgerspital übernommen.

Ein weiteres Beispiel ist die 1853 im Kölner Gesellenverein entstandene Sparkasse. Das Thema Sparen hat Adolph Kolping verschiedentlich behandelt, sowohl unter grundsätzlicher Rücksicht als auch im Sinne praktischer Anregungen für die Vereinsarbeit. Der Gesellenverein hat die Aufgabe, seine Mitglieder zu allen christlichen und bürgerlichen Tugenden anzuhalten. Aus dem Gesehen soll ein Meister hervor-gehen, aus dem ledigen jungen Manne ein tüchtiger Familienvater. Des Meisters und Familienvaters ehrenhafter Bestand beruht auf einer Summe wahrer Tugenden, welche die ehrenhafte Tüchtigkeit bedingen. Diese Tugenden kann man nicht einkaufen wie Rohstoffe fürs Geschäft, auch wenn man Geld hätte, sie müssen erworben, und zwar meist mühsam erworben werden. Als Geselle muss der junge Mann jene Tugenden energisch pflegen, die ihn als fertigen Meister und Familienvater zieren sollen, denen er dann hauptsächlich sein gutes Fortkommen verdankt. Unter diesen christlich_bürgerlichen Tugenden ist die verständige Wirtschaftslehre, praktisch die vernünftige Sparsamkeit, sicher nicht die geringste. Es ist nicht genug, das Geschick [zu] besitzen und aus[zu]üben, ein ordentliches Stück Brot zu verdienen, es gilt fast ebensoviel, das mühsam Erworbene verständig zu verwalten. Das muss bereits der Geselle lernen. Also muss er sparen lernen. ... Wer als Geselle nichts hat erübrigen und zurücklegen können, wird schwerlich als Meister es weit bringen.

 

Ein letzter Hinweis in diesem Zusammenhang betrifft die sog. ‚Wanderunterstützung’: Der Gesellenverein verstand sich ja gerade auch als ‚Heimat’ für die wandernden Gesellen, wobei die (berufliche) Wanderschaft damals durchaus als ‚normaler’ Bestandteil der Weiterbildung vor dem Erreichen der Meisterschaft (und damit einer evtl. eigenständigen wirtschaftlichen Existenz) gelten kann.

Im Bericht über die (III.) Generalversammlung 1853 heißt es: Unter den eingelaufenen Anträgen war folgender von den Vorständen von Bonn, Dortmund und Düsseldorf eingebracht: ‚Jeder Lokalverein soll gehalten sein, entweder baldigst für die Einrichtung eines Gesellenhospitiums tätig zu sein oder doch in kürzester Frist Sorge zu tragen, dass überall, wo Gesellenvereine bestehen, mit einem ordentlichen Wirte ein Abkommen über die ordentliche Aufnahme und Verpflegung der wandernden Vereinsmitglieder getroffen werde.‘ In der Debatte einigte man sich dahin, dass jeder Lokalvorstand binnen zwei Monaten soll gehalten sein, den wandernden Vereinsmitgliedern eine ordentliche Unterkunft zu beschaffen. Die etwaigen Vorteile soll jeder Lokalverein nach bestem Können im Auge behalten.

Ein zweiter Antrag hatte dahin gelautet, dass statt oder neben der Vereinskarte ein allgemein gültiges Vereinswanderbuch beschafft werden sollte. Tatsächlich erschien das Wanderbuch für den Katholischen Gesellenverein nach weiteren Beratungen der Generalversammlung 1854 erstmalig 1856. Es war von Anfang an für den Gesamtverband konzipiert und enthielt dementsprechend auch eine Auflistung aller bestehenden Vereine, ebenso die jeweils aktuelle Fassung der Allgemeinen Statuten.

Das Allgemeine Statut war in der im Wanderbuch abgedruckten Fassung ergänzt mit den (neuen) §§ 18-23, betreffend die ‚vorläufigen Bestimmungen für die Wandernden‘, wie sie im Grundsatz bei der Generalversammlung 1854 festgelegt worden waren.

Die genannten Bestimmungen lauten:

§ 18 Nur ordentliche Mitglieder des Vereins haben Anspruch auf die Fürsorge des Vereins.

§ 19 Um ordentliches Mitglied in diesem Sinne zu sein, muss der betreffende Geselle wenigstens drei volle Monate, vom Tage der Aufnahme an gerechnet, dem Ver-eine angehört und sich als ein braves, treues Mitglied bewährt haben. Nur solche ordentliche Mitglieder sollen an den allenfallsigen Wohltaten oder Unterstützungen der einzelnen Vereine teilhaben. ...

§ 22 Jedem wandernden Vereinsmitgliede - siehe § 19 - soll von dem Vereine, den er auf seiner Wanderschaft besucht, nach den Kräften der einzelnen Vereine eine Unterstützung in Kost und Herberge zugewendet werden, doch kann der Zugereiste diese Unterstützung durchaus nicht als ein Recht in Anspruch nehmen.

 

Ohne Zweifel haben gerade diese zuletzt skizzierten Angebote bzw. Leistungen des Gesellenvereins, und zwar in ihrer ausdrücklichen Beschränkung auf Mitglieder, ganz wesentlich zur Attraktivität einer Mitgliedschaft beigetragen! Das rasche Wachstum des Verbandes – schon zu Lebzeiten Kolpings – ist gewiss nicht ohne solche ausdrücklichen Vorteile für die Mitglieder zu erklären!

Die Frage nach Ideen und Zielen Adolph Kolpings resp. seines Wirkens insgesamt reicht allerdings über den unmittelbaren ‚praktischen’ Bereich der Arbeit im Verein – und später im Verband – hinaus. Im Ansatz wird dies exemplarisch etwa in Kolpings Schrift ‚Ein Wort über Volksvereine und der Katholische Jünglingsverein zu Elberfeld‘ vom Beginn des Jahres 1848 deutlich, wo es heißt: Wenn irgendein Teil des Volkes der Aufmerksamkeit wert ist, wenn irgendeiner noch der Bildung fähig ist und guten Willen dazu hat, dann ist es die anwachsende männliche Jugend. Und wenn irgendeiner der Verführung ausgesetzt ist, irgendeiner den Grund zu unabwendbarem geistigen und leiblichen Elende legt, dann ist es eben wieder die anwachsende männliche Jugend. Darunter gilt das letztere vorzugsweise der arbeitenden und dienenden Klasse in großen und volkreichen Städten - warum nicht gar in kleinen? - , wie diejenigen wissen, die berufen sind, sich mit dem Volke in allen Klassen der Gesellschaft zu bekümmern. Soll dem künftigen Elende vorgebeugt werden - das gegenwärtige bedarf anderer Hilfe - , dann müssen unsere jungen Handwerker und Arbeiter, die einst als Meister und Hausväter die große, breite Unterlage des Volkes bilden, vor dem gegenwärtigen Elende ihres Alters bewahrt werden, dann muss ihnen jetzt die Hand geboten werden zu geistigem und leiblichem Fortkommen, freundlich und ernst müssen sie an den Klippen vorübergeführt werden, an denen unsere Jugend gewöhnlich scheitert. Den anwachsenden jungen Handwerkern und Arbeitern gilt also zunächst der erziehende und fortbildende Verein, der unter dem Namen ‚Katholischer Jünglingsverein‘ bereits vor einem Jahre hier ins Leben getreten ist und von Tag zu Tag herrlicher aufblüht.

Was will also der Verein? Unsere Jünglinge sollen einst tüchtige, ehrenhafte Bürger und Familienväter werden, das Höchste, was sie nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zu erstreben haben. Wie wird das zu erreichen gesucht? Ein tüchtiger, ehrenhafter Familienvater muss einen gediegenen Charakter besitzen, und, um den zu erlangen, muss er ein aufrichtiger, tüchtiger Christ sein - wir sind nämlich noch gar nicht so weit, mit einem sogenannten ‚ehrlichen Mann‘ uns zu befriedigen, mag er vom Christentum halten, was er will -, und um ihn zu bewahren, soll er sein Fach, welches es auch immer sei, hinreichend und wohl verstehen und damit dem Posten Ehre machen, auf den die Vorsehung ihn gestellt hat. Vor allen Dingen soll er nicht über seinen Stand hinaus - ein Hauptübel unserer Zeit -, denselben aber auch ganz auszufüllen streben.

Zum besseren Verständnis, gerade auch im Sinne einer historischen Einordnung dieser Gedanken, müssen freilich die aktuellen Zeitverhältnisse ebenso mit in den Blick genommen werden wie Kolpings eigener (bisheriger) Lebensweg und die dort grundgelegten Sichtweisen und Überzeugungen, auf die im folgenden Kapitel eingegangen werden soll.

 

2. Leben und Zeit Kolpings

Am 8. Dezember 1813 wurde Adolph Kolping in Kerpen geboren. Seine Geburt, ja sein ganzes Leben, fällt in eine Epoche tiefgreifenden Wandels, umwälzender Ver-änderungen in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher, politischer, religiöser und weltan-schau-li-cher Hinsicht im Gefolge der Französischen Revolution und - später dann - der industriellen Revo-lution. Ein Beispiel dafür ist bereits die Tatsache, dass Kolpings Geburtsurkunde in französischer Sprache abgefasst ist; für kurze Zeit gehörte das linksrheinische Deutschland noch zum unmittel-baren Herrschaftsbereich Napoleons, ehe es dann nach dessen Niederwerfung zum größten Teil an Preußen fiel. Überhaupt erfuhr die politische Landschaft Deutschlands gerade in diesen Jahren grundlegende Veränderungen. Von den einst rund vierhundert selbständigen politischen Ge-bil-den waren bis zum Ende der napoleonischen Ära nur mehr knapp vierzig übrig, nachdem sich die größeren Staaten die Masse der unabhängigen Standesherrschaften, Reichsstädte und geistlichen Territorien einverleibt hatten, was als Ausgleich für die durch das Ausgreifen des revolutionären Frankreich eingetretenen Gebietsverluste gerechtfertigt wurde. Diese noch verbleibenden Staaten sahen sich nun vor die keineswegs leichte Aufgabe gestellt, sehr unterschiedliche neue Landesteile - unterschiedlich auch in konfessioneller Hinsicht - zu integrieren. Die katholische Kirche Deutschlands war durch die Säkularisation nahezu ihres gesamten weltlichen Besitzes beraubt worden, stand also vor einer völlig neuen Situation, zudem noch bedrängt durch staatliche Ein-mischung in ihre inneren Angelegenheiten und durch wachsende weltanschauliche Gegnerschaft. Während in langwierigen Verhandlungen mit den Staaten eine neue materielle Existenzgrundlage geschaffen werden musste, erlebte die Kirche trotz ihrer äußeren Schwäche einen ungeahnten inneren Aufschwung, kam es zu einer nachhaltigen Neubelebung und Intensivierung des kirchlichen Lebens.

Wichtiger noch als territoriale Veränderungen war der sich vollziehende Wandel im politischen Denken und Wollen der Menschen. Die Forderung nach Freiheit und Gleichheit, und damit auch nach politischer Mitsprache, wie sie das französische Bürgertum in der Revolution von 1789 auf seine Fahnen geschrieben hatte, breitete sich auch in Deutschland unaufhaltsam aus und verunsicherte die herrschenden Mächte, für die derartige Forderungen meist noch eine bedrohliche Gefahr darstellten. Immer weniger war es in der Folgezeit jedoch möglich, dem Bürgertum, das die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage der Nation weitgehend prägte, die konkrete Mitwirkung am politischen Geschehen zu verweigern; ganz allmählich beginnt die Einrichtung und Ausbildung von Parlamenten und politischen Parteien, nachdrücklich vorangetrieben durch die Revolution von 1848. Ebenfalls in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen steht die in diesen Jahren erfolgende Einleitung grundlegender, sozialer Wand--lungsprozesse, die das Leben zahlreicher Menschen veränderten. So auf der einen Seite die Bauernbefreiung, also die allmähliche Beseitigung der traditionellen Abhängigkeit der Landbevölkerung von Grundherren, auf der anderen Seite die Einführung der Gewerbefreiheit, von der vor allem das Handwerk betroffen war. Mit ihr war nämlich das endgültige Ende des Zunftwesens ge-kom-men, das in den vorangegangenen Jahrhunderten das Leben der städtischen Handwerks in um-fassender Weise geprägt hatte. In dieser Zeit wurden auch die ersten Ansätze der Industri-a-lisierung sichtbar, die - von England ausgehend - in der Folgezeit die Welt so nachhaltig wie selten zuvor verändern sollte, freilich begleitet von einer Fülle ungeahnter Probleme und Konflikte. Sie wurden schließlich, zusammenfassend mit dem Begriff ‚soziale Frage’ gekennzeichnet, zu dem zen-tralen Thema des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Von all dem, auch von den geistigen Strömungen und Auseinandersetzungen einer Epoche, in der der Liberalismus zur vorherrschenden Weltanschauung breiter bürgerlicher Schichten wurde, war in den Jahren um 1813 in Kerpen wohl noch wenig zu spüren. Entscheidend ist jedoch, dass sich in dieser Zeit Entwicklungen und Wandlungen anbahnten bzw. vollzogen, die für das spätere Leben und Wirken Kolpings von grundlegender Bedeutung waren.

Kolping war das vierte von fünf Kindern eines Schäfers und Landwirts. Die wirtschaftliche Situation seines Elternhauses kennzeichnet Kolping selbst mit dem Hinweis, das der ganze Reichtum der Familie in einer zahlreichen Kinderschar bestanden habe. Bei aller Dürftigkeit der häuslichen Verhältnisse war das Familienleben jedoch glücklich und harmonisch, von Liebe erfüllt und durch Zufriedenheit gekennzeichnet, wurzelnd in tiefer Religiosität. Eben diese Grunderfahrung ist für Kolpings gesamtes späteres Wirken von prägender Bedeutung gewesen; wenn er stets die wichtige Rolle eines glücklichen, zufriedenen Familienlebens und die Notwendigkeit einer festen religiösen Verwurzelung des Menschen betonte, so war dies in wesentlichem Maße durch die eigene Kindheitserfahrung bestimmt.

Nicht zuletzt die nicht besonders robuste körperliche Konstitution erlaubte Kolping den regelmäßigen Besuch der heimatlichen Schule in den Jahren 1820 bis 1826. Hier ist daran zu erinnern, dass der regelmäßige Schulbesuch für die Kinder der Landbevölkerung in jener Zeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, zumal da erst in diesem Zeitraum überhaupt das ernsthafte Bemü-hen um die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht einsetzte. An seinen Lehrer Jakob Wilhelm Statz erinnerte sich Kolping Zeit seines Lebens mit besonderer Dankbarkeit, bot dieser dem lern-begierigen und -fähigen Knaben doch mehr, als es für den Dorfschulmeister jener Zeit üblich war. In diesen Jahren wurde in Kolping der Wunsch nach höherer Bildung geweckt, der freilich zunächst nicht in Erfüllung gehen konnte; die Familie war nicht in der Lage, die mit dem Besuch einer höheren Schule verbundene finanzielle Belastung zu tragen. Wohl oder übel musste sich Kolping entschließen, einen Beruf zu erlernen. Er wurde Schuhmacher, arbeitete drei Jahre als Lehrling in seinem Heimatort und anschließend noch sieben Jahre als Geselle in verschiedenen Orten der näheren Umgebung, zuletzt in Köln. Seine beruflichen Fähigkeiten entwickelten sich in dieser Zeit immerhin so, dass er schließlich in einer der führenden Werkstätten Kölns Beschäftigung gefunden hatte.

In den zehn Jahren seines Handwerkerlebens lernte Kolping die Situation des Handwerks sehr genau kennen, war er doch stets ein Mensch, der sich intensiv mit der ihn umgebenden Wirklichkeit auseinander setzte. Weithin befand sich das Handwerk in dieser Zeit in einer schwierigen Lage. Die Einführung der Gewerbefreiheit und das Ende des Zunftwesens brachten es mit sich, dass es in den Städten oft eine übergroße Zahl von Handwerksbetrieben gab, die dann zum Teil nur eine recht kümmerliche Existenz führen konnten, die kaum den Meister und seine Familie zu er-näh-ren vermochten. Das Überangebot an Betrieben führte natürlich zu einem überaus heftigen Konkurrenzkampf, der nach Wegfall der Zunftordnung keinerlei Regelungen mehr unterlag. Für zahlreiche Meister bedeutete dies den Ruin und dann vielfach - wie auch für viele Gesellen - das Absinken in das sich allmählich herausbildende Industrieproletariat. Gerade durch das Aufkommen des Industriebetriebes wurde die Situation für manche Gewerbe noch erheblich verschärft, da zur Konkurrenz aus den eigenen Reihen noch die weit gefährlichere des maschinell gefertigten und deshalb billigeren Industrieproduktes trat.

Im ganzen kann gesagt werden, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der beschaulichen Ruhe und der festgefügten Ordnung des handwerklichen Lebens vielerorts vorbei war. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sich - mehr oder weniger zwangsläufig - auch im Handwerk allmählich jene spezifisch kapitalistische Wirtschaftsgesinnung ausbreitete, die das Arbeiten und Wirtschaften nunmehr oder doch in erster Linie als Mittel zum Erwerb des Lebensunterhaltes bzw. zur Erlangung von Profit versteht (verstehen muss) und entsprechend ausrichtet (ausrichten muss). Eben diese Einstellung, deren allmähliche Durchsetzung in allen Bereichen ein wichtiges Element der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts darstellt, trug wesentlich mit dazu bei, dass Arbeits- und privater Lebensbereich mehr und mehr auseinander traten, nachdem sie gerade beim Handwerk in der Epoche der Zunftordnung doch eng verflochten gewesen waren.

Für den Gesellenstand brachten diese Entwicklungen einschneidende Veränderungen mit sich. Früher doch weitgehend in den Haushalt des Meisters eingegliedert, gewissermaßen zur Familie gehörig, waren die Gesellen nun durch den Wegfall traditioneller Bindungen und Regelungen ihres Daseins zwar freier und unabhängiger geworden, waren zugleich jedoch außerhalb ihrer Arbeitszeit völlig sich selbst überlassen, auf sich selbst angewiesen, sofern sie keine Aufnahme im Haus-halt des Meisters mehr fanden. Dies wurde mehr und mehr zur Regel, seit die Meister im Gesellen in erster Linie nur mehr die bezahlte Arbeitskraft sahen und jeglicher Verpflichtung entbunden waren, sich um das private Dasein dieser Arbeitskraft zu bekümmern. Wirtshaus und Herberge wurden so unvermeidlich zum ‚Lebensraum’ der Gesellen außerhalb ihrer Arbeitsstätte; ein Um-stand, der sich natürlich nicht eben förderlich auf die persönliche und soziale Entwicklung der Betroffenen auswirkte. Kolping spricht, von den eigenen Erfahrungen ausgehend, von einer Verwilderung des Gesellenstandes, von Sittenlosigkeit und Entchristlichung, wie sie sich in zu-nehmender Deutlichkeit abzeichneten und allmählich dazu führten, dass der ‚anständige’ Bürger jedem Kontakt mit den Handwerksgesellen tunlichst aus dem Wege ging. Er führt diesen Niedergang in erster Linie auf die Herauslösung der Gesellen aus einem festen Ordnungsgefüge zurück, auf das Sich-selbst-Überlassen-Sein der Gesellen, das er zugleich als Ausgeliefert-Sein an alle Gefahren der Zeit versteht. Als solche Gefahren hebt er vor allem sittliche Verwahrlosung und religiöse Entwurzelung hervor, insgesamt also den Verlust einer festen Lebenshaltung und klarer Orientierungsmaßstäbe, dann aber auch eine gewisse politische Radikalisierung. Gerade die Gesellen hatten auf ihrer ungebundenen Wanderschaft Gelegenheit, die sich in dieser Zeit vielfältig entfaltenden radikalen politischen Anschauungen kennen zu lernen, wobei sie ihre neu gewonnenen Ansichten dann oft genug mit in die Heimat nahmen und dort verbreiteten. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass solche Entwicklungen auch negative Auswirkungen auf die berufliche Weiterbildung des Handwerksnachwuchses haben konnten und mussten, denn ‚organisierte’ Angebote im Blick auf den Weg vom Gesellen zum Meister gab es de facto nicht (mehr).

Im ganzen erscheint die Lage des Gesellenstandes, wie Kolping sie beschreibt, recht düster. Zwar muss man sich hier vor Verallgemeinerungen hüten, da es sowohl in regionaler Hinsicht als auch bei der Situation der verschiedenen Gewerbe große Unterschiede gab, die verfügbaren Quellen las-sen jedoch den Schluss zu, dass Kolpings Schilderungen weder krasse Übertreibungen sind noch bloße Sonderfälle darstellen. Kolping war im übrigen Realist genug, um in der misslichen Lage vieler Gesellen nicht in erster Linie individuelle Schuld, persönliches Versagen zu sehen, sondern Ausfluss gesellschaftlicher Verhältnisse, Folge auch der geistig-sittlichen Gesamtsituation der Zeit; eine Sicht, die in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich war.

Kolping empfand die eigene Lebenssituation mehr und mehr als Bedrückung. Mit seinem Lebensernst und seiner tief religiösen Grundhaltung konnte er sich unter seinen Standesgenossen nicht heimisch fühlen; ebenso wenig konnte sich der stets vielfältig interessierte Kolping, dem immer eine höhere Bildung als Wunschbild vor Augen schwebte, der jede Gelegenheit zum Lesen wahrnahm und sich deshalb wohl manchen Tadel seines Meisters und manche Hänselei seiner Kollegen gefallen lassen musste, in diesen Verhältnissen geistig befriedigt finden. Kolpings innere Unruhe und Unzufriedenheit steigerten sich zusehends. Rückblickend schrieb er später: Acht Jahre bin ich von einer Stadt zur anderen gewandert, habe ... das Leben von guten und bösen Seiten angeschaut, und am Ende ... fand ich mich selbst tief in ein Verhältnis gewickelt, das mir nur zu deutlich zeigte, wie unglücklich ich geworden war ... Ich fand mich vereinsamt mitten unter meinen Standesgenossen, an eine Lebensweise gebunden, die mir allmählich Grauen einflößte, und doch keinen Ausweg vor mir, aus diesem Labyrinthe zu entkommen. Ich war nahezu 22 Jahre alt ..., und ich war rat- und hilflos. Unter dieser Volkshefe konnte ich nicht sitzen bleiben, nicht mein ganzes Leben unter den obwaltenden Umständen verkümmern lassen; und aus dem Verhältnisse heraustreten, von neuem eine andere, mir mehr zusagende Lebensweise beginnen, war ein Unternehmen, das ebenso gewagt als gefährlich war. Was beginnen? ... Mein Stand und die Bildung, zu der ich mich ... hinaufschwingen wollte, waren unvereinbar, das war mir klar geworden. Auf eines musste ich verzichten, wenn ich Zufriedenheit und Ruhe finden wollte.

 

Schließlich konnte sich Kolping aber doch zur Aufgabe des bisherigen Lebens durchringen, zum Entschluss, sich nun doch noch die ersehnte höhere Bildung anzueignen; ein Entschluss, der ihm durch das große Verständnis erleichtert wurde, das er bei seinem Vater für seine Notlage fand. Das Ziel höherer Bildung, zu der Kolping sich berufen und befähigt glaubte, und die Flucht aus unerträglich gewordenen Verhältnissen standen dabei im Vordergrund. Im Grundsatz ist sicher auch schon das Ziel ausgeprägt gewesen, einmal Priester zu werden; ganz sicher jedoch fehlt bei Kolping zu diesem Zeitpunkt noch der Plan, später einmal etwas für die ehemaligen Standesgenossen zu tun, war er doch froh, überhaupt erst einmal dem Zusammenleben mit diesen ent-ronnen zu sein. Wie ernst es ihm übrigens mit dem Entschluss zur Aufgabe des bisherigen Lebens war, wird beispielhaft an der Tatsache deutlich, dass er das Angebot seines Kölner Meisters ausschlug, die einzige Tochter zu heiraten und die Werkstatt zu übernehmen; ein durchaus verlockendes Angebot, das übrigens auf die menschlichen und fachlichen Qualitäten des jungen Kolping schließen lässt.

Nach intensiven Vorbereitungen, speziell Latein-Studien, bei denen ihn Pfarrer Lauffs von Nideggen und Vikar Wollersheim in Kerpen unterstützten, wurde Kolping im Herbst 1837 in die Tertia des Kölner Marzellen-Gymnasiums aufgenommen. In nur dreieinhalb Jahren absolvierte er den Gymnasialkurs; eine um so erstaunlichere Leistung, wenn man bedenkt, dass er mehrfach durch Krankheiten (Pocken und Bluthusten) zum Pausieren gezwungen war und dass er sich seinen Lebensunterhalt größtenteils selbst verdienen musste, vor allem durch das Erteilen von Nachhilfestunden. Deutlich wird bereits hier jener volle Einsatz aller verfügbaren Kräfte zur Erreichung eines besonderen Zieles, der sich auch durch noch so viele Hindernisse nicht beeinträchtigen lässt, wie er für Kolpings ganzes späteres Wirken kennzeichnend ist.

Tagebucheintragungen und Briefe an den Jugendfreund Karl Statz, den Sohn des Kerpener Lehrers, geben wichtige Aufschlüsse über die innere Verfassung und Entwicklung Kolpings in diesen Jahren. Sie zeigen etwa, dass es für Kolping als gereifte Persönlichkeit, die mit aller Macht auf ein festes Ziel hinstrebte, nicht eben leicht war, sich in die Lebensverhältnisse eines Schülers einzufinden. Manche kritische Äußerung dem Schulalltag und der Lehrerschaft gegenüber ist von diesem stürmischen Vorwärtsdrang her zu verstehen und zu bewerten. In dieser Zeit reifte der Wunsch, Priester zu werden, zur endgültigen Gewissheit des Berufen-Seins; eine Entwicklung, die keineswegs ohne innere Kämpfe vor sich ging, etwa hinsichtlich der notwendigen ‚Lösung’ von der Jugendliebe Margarete Statz, der Schwester des Freundes. War das berufliche Ziel nun auch klar, so war damit jedoch noch keine nähere Vorstellung von einer bestimmten Richtung des späteren Wirkens verbunden. Ganz allgemein nur spricht Kolping in dieser Zeit von dem Ziel, etwas für die Menschheit zu tun, wie er es als grundsätzliche Pflicht des Gebildeten versteht, dem er eine hohe, kaum zu überschätzende Verantwortung als Volkslehrer zumisst. Immer wieder wird dabei deutlich, dass die Religion in Kolpings Sicht tragendes und bestimmendes Fundament aller Lebensäußerungen sein muss, wenn der Mensch seiner Aufgabe in der Welt gerecht werden will.

Im Frühjahr 1841 bestand Kolping das Abitur. Er konnte nun relativ sorgenfrei sein Theologiestudium beginnen, nachdem sich eine Wohltäterin gefunden hatte, die für die Sicherung des Lebensunterhaltes aufkommen wollte. Vor die Wahl einer Universität gestellt, entschied er sich für München, die damals führende katholische Universität Deutschlands. Die Münchener Zeit wurde für Kolping nicht nur eine ganz entscheidende Phase geistiger Prägung, ganz allgemein behielt er sie sein Leben lang in glücklicher Erinnerung. Neben der Stadt mit ihren Bauwerken und Kunstschätzen, ihrer ganzen Atmosphäre, nahm in dieser Erinnerung auch die Ferienreise im Herbst 1841 einen wichtigen Platz ein, eine Fußwanderung durch die Alpen bis nach Venedig, über die Kolping in einem sorgfältig geführten Tagebuch eingehende und fesselnde Auskunft gibt.

Der deutsche Katholizismus befand sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer tiefgreifenden Umbruchsituation, und zwar sowohl in äußerer wie innerer Hinsicht. Auf der einen Seite war die Kirche durch die Säkularisation äußerlich geschwächt worden; seither befand sie sich - nicht zuletzt aufgrund ihrer nun doch nicht unerheblichen finanziellen Abhängigkeit vom Staat - stärker als zuvor staatlichem Einfluss, staatlichen Eingriffen ausgesetzt, bis hin etwa zur Genehmigungspflicht der Bekanntgabe kirchlicher Verlautbarungen durch die Behörden oder zur konkreten Mitsprache des Staates bei der Besetzung kirchlicher Ämter. Erschwerend wirkte in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass vielfach - durchaus auch in katholischen Staaten - gerade die Bürokratie Träger liberaler Anschauungen war, die in dieser Zeit vielfach mehr oder weniger anti-kirchliche Züge trugen. Bei aller Problematik des Vergleichs unterschiedlicher historischer Epochen wird man doch sagen können, dass die Situation der katholischen Kirche Deutschlands zur Zeit Kolpings in vieler Hinsicht weit schwieriger war als in unseren Tagen. Nicht zuletzt als Reaktion auf diese politische und weltanschauliche Bedrängnis kam es nun aber auf der anderen Seite zu einem inneren Erstarken der Kirche. Diese Entwicklung, die sich keineswegs auf Deutschland be-schränkte, war freilich auch Antwort auf innerkirchliche Entwicklungen der vergangenen Zeit, wo sich im Gefolge der Aufklärung etwa Tendenzen herausgebildet hatten, die die traditionellen Formen der Volksfrömmigkeit bekämpften, die konfessionellen Unterschiede zugunsten eines all-ge-meinen christlich-humanen Ideals abzubauen suchten und sich bemühten, Glauben und Theologie mit vernünftigen, d. h. verstandesgemäßen Einsichten und Argumenten zu begründen bzw. zu unter-mauern, wo ebenso auch Bestrebungen aufgetreten waren, die auf eine größere Selb-stän-digkeit der einzelnen nationalen Kirchen zielten. Die neue Richtung im Katholizismus, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzte, ist demgegenüber gekennzeichnet durch eine Inten-sivie-rung des kirchlichen Lebens und damit auch durch die stärkere Betonung kirchlicher Bräuche und Vorschriften, auf deren Einhaltung vorher vielfach nicht sonderlich hingewirkt worden war, durch die scharfe Betonung der konfessionellen Unterschiede, von der aus die im ganzen 19. Jahr-hundert deutliche Konfrontation der großen christlichen Konfessionen in Deutschland wesentlich mit geprägt wurde, durch das Streben nach umfassender innerer Geschlossenheit und den entsprechenden Kampf gegen alle realen oder vermeintlichen Irrtümer oder Abweichungen, durch die entschiedene Ausrichtung auf Rom, auf das Papsttum als Symbol der universalen Einheit der Kirche und zugleich als konkreten Träger aller Entscheidungsgewalt, durch den engagierten Kampf gegen die neuen, mit kirchlicher Lehre in irgendeiner Weise im Widerspruch stehenden welt-anschaulichen Richtungen, speziell den Liberalismus mit seinen politischen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen und Forderungen, schließlich auch durch die Forderung nach Freiheit der Kirche, d. h. Freiheit von staatlicher Bevormundung und staatlichen Eingriffen in Bereiche, die man - wie besonders das Schulwesen - als zum alleinigen oder primären Zuständigkeitsbereich der Kirche gehörig verstand. Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung, die gerade auch in der allmählichen Entfaltung eines vielfältigen katholischen Vereinswesens Ausdruck fand, kam naturgemäß den Universitäten zu, und hier stand eben die Münchens mit Gelehrten wie Joseph Görres und Ignaz Döllinger an führender Stelle.

Kolping fand in München rasch Zugang zum Kreis der katholischen Erneuerungsbewegung, deren Anschauungen er in vollem Maße teilte bzw. sich aneignete. Ein besonders enges Verhältnis verband ihn mit den Professoren Döllinger und Windischmann. Letzterer war auch geistiger Leiter einer lockeren Vereinigung rheinischer und westfälischer Studenten, deren Haupt Kolping war und zu der auch Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der spätere Mainzer Bischof, gehörte, der etwa zur gleichen Zeit wie Kolping - ebenfalls als Spätberufener - sein Theologiestudium aufgenommen hatte. In diesem Zusammenhang ist übrigens jene in der Literatur verschiedentlich auftauchende Be-hauptung, dass Kolping in dieser Zeit von Ketteler grundlegende Anregungen für sein späteres Wirken als Gesellenvater empfangen habe, nachdrücklich in das Reich der Legende zu verweisen, da sie durch keinerlei Hinweise in den verfügbaren Quellen zu stützen ist. Tatsächlich war Kolping in dieser Zeit und auch später noch der Meinung, später vielleicht einmal auf wissenschaftlichem Gebiet tätig werden zu können. Festzuhalten ist allerdings, dass Kolping in wohl keinem anderen Lebensabschnitt - von der Kindheit natürlich abgesehen - so viele prägende geistige Einflüsse empfing wie in der Münchener Zeit, Einflüsse vor allem im Bereich seiner grundlegenden theologischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Anschauungen.

Schweren Herzens verließ Kolping im Herbst 1842 München, das ihm zur geistigen Heimat geworden war, um sein Studium in Bonn fortzusetzen. Zwar war er dort der Heimat und den alten Freunde näher, im geistigen Klima der Bonner Universität konnte er sich jedoch bei weitem nicht so ‚zuhause‘ fühlen, wie dies in München der Falle gewesen war. Deutlich wird dies besonders in den Briefen an den verehrten Münchener Lehrer Döllinger, in denen Kolping diesem eingehend über seine jeweilige Lebenssituation und die dazugehörigen äußeren Umstände berichtet. Für die Zeit bis etwa 1849 stellen diese Briefe die wichtigste Quelle der Biographie Kolpings dar.

Die Situation der Bonner Universität zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts war durch die Auseinandersetzungen um den Hermesianismus gekennzeichnet, eine von Georg Hermes begründete theologische Richtung, die - beeinflusst von der zeitgenössischen Philosophie, besonders von Kant - eine wissenschaftliche, vernunftgemäße Grundlegung des Glaubens anstrebte. Von diesem Ansatz her, der freilich keineswegs überall richtig verstanden und angemessen bewertet wurde, stieß der Hermesianismus auf die entschiedene Kritik der an Einfluss gewinnenden streng-kirchlichen Richtung des deutschen Katholizismus, des Ultramontanismus, wie sie von ihren Gegnern genannt wurde. Zwar war die Lehre im Kern bereits 1835 durch Papst Gregor XVI. verurteilt worden, gerade an der Bonner Universität hatte sie jedoch noch immer eine starke Position, die erst im Laufe der Jahre durch die Entfernung der führenden hermesianischen Pro-fessoren vom Lehramt abgebaut wurde. Kolpings Bonner Zeit fällt in die letzte, entscheidende Phase dieser Aus-ein-an-dersetzungen, die mit dem Amtsantritt des Koadjutors und späteren Erzbischofs Johannes von Geissel 1841 begonnen hatte. Führender Antihermesianer in Bonn war der von Geissel berufene Professor Dieringer, in dem Kolping einen dauerhaften Freund und Förderer fand. Der Student Kolping ließ die Ereignisse keineswegs passiv über sich ergehen; er zeigte sich vielmehr als entschiedener Gegner des Hermesianismus und kompromissloser Anhänger der neuen Richtung, der sich aktiv engagierte, der mit verschiedenen Aktivitäten unter der Studentenschaft und auch mit ersten publizistischen Arbeiten für seine Sache eintrat, wobei er als führender Kopf der anti-her-mesianischen Studenten Bonns erscheint.

Das letzte Jahr seiner theologischen Ausbildung verbrachte Kolping im Kölner Priesterseminar, bis er am 13. April 1845 in der Minoritenkirche zu Köln durch Weihbischof Claessen die Priesterweihe empfing. Dieser bedeutendste Tag in seinem bisherigen Leben wurde allerdings durch den Tod des Vaters in der voraufgehenden Nacht überschattet, von dem Kolping unmittelbar vor dem feierlichen Einzug in die Kirche Mitteilung erhielt.

Der Neupriester Kolping erhielt seine erste Stelle als Kaplan in der St. Laurentius-Pfarrei zu Elberfeld. Elberfeld war damals eine Stadt von etwa 40.000 Einwohnern, die sich besonders durch ihr aufblühendes Wirtschaftsleben auszeichnete. In kaum einer anderen Stadt Deutschlands waren in dieser Zeit die neuen Entwicklungen im wirtschaftlichen und technischen Bereich, vor allem also das Vordringen der Fabrikindustrie, so weit fortgeschritten wie gerade in Elberfeld. Freilich bedeutet dies auch, dass die sozialen Probleme, von denen die Industrialisierung begleitet wurde, dort besonders ausgeprägt in Erscheinung traten, also etwa die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Handwerks und - vor allem - das Elend der zum Proletariat absinkenden bzw. bereits abgesunkenen Bevölkerungsgruppen, begleitet von einer zumindest in Ansätzen sichtbaren politischen Radikalisierung der Betroffenen. Sichtbaren Ausdruck fand dies im Revolutionsjahr 1848, wo es gerade auch in Elberfeld zu Unruhen unter der Arbeiterschaft und den Handwerksgesellen kam, zu Barrikadenbau und Straßenkampf. Zur Situation in Elberfeld schrieb Kolping an Döllinger: Die große Masse der Fabrikarbeiter schmachtet im Elend, wie ich es nur im Wuppertal kennen gelernt.

Die katholische Gemeinde Elberfelds umfasste etwa 10.000 Gläubige, war also Diasporagemeinde in einer mehrheitlich protestantischen Umgebung. Im Zeichen sich verschärfender konfessioneller Gegensätze hatte sie infolgedessen keinen leichten Stand, zumal da die Gemeindemitglieder größtenteils den unteren sozialen Schichten angehörten. Besondere Schwierigkeiten gab es gerade in den Jahren um 1845 noch durch das Auftreten des Deutschkatholizismus, einer 1844 entstandenen, relativ kurzlebigen Sekte, die gerade im Wuppertal einen Schwerpunkt ihres Wirkens gefunden hatte und - zum Teil von protestantischen Kreisen unterstützt - gegen die romtreue katholische Gemeinde agitierte. Der Elberfelder Protestantismus selbst war kein einheitliches Gebilde, sondern - geradezu ein Spezifikum der Stadt in dieser Zeit - durch das Nebeneinander und mitunter auch Gegeneinander einer großen Zahl recht unterschiedlicher Richtungen und Gemeinden gekennzeichnet.

Im Jahr 1846 war in Elberfeld ein Kreis junger Katholiken, zumeist Handwerksgesellen, zusammen-getreten, um Lieder für die alljährliche Laurentius-Prozession einzuüben. Nach ihrem recht erfolgreichen ersten Auftreten beschlossen sie, auch weiterhin zusammenzukommen. Der Lehrer Johann Gregor Breuer, durch zahlreiche Vereinsgründungen um die Elberfelder katholische Gemeinde verdient, nahm sich dieser jungen Leute an. Er stellte ihnen einen Schulraum für ihre Zusammenkünfte zur Verfügung, erweiterte das Programm dieser Versammlungen durch bildende und belehrende Vorträge und formte die zunächst lockere Vereinigung schließlich zu einem festen Verein aus, dem er auch die ersten Statuten gab. Gegen Ende des Jahres 1846 war somit der Elberfelder Jünglingsverein ins Leben getreten, der Ursprung des katholischen Gesellenvereins und damit des heutigen Kolpingwerkes.

Noch im Jahr 1846 war Johann Steenaertz, erster Kaplan der Laurentius-Pfarrei, zum Präses des Jünglingsvereins gewählt worden. Vom gleichen Zeitpunkt datiert Kolpings Bekanntschaft mit diesem Verein, dessen Entstehung er als Kaplan natürlich miterlebt hatte und in dem er zunächst gelegentlich Vorträge hielt. Sehr bald gewann er die Herzen der Mitglieder, die erlebten, daß da jemand zu ihnen sprach, der ihre Lage und ihre Probleme aus eigener Erfahrung kannte und sie wirklich verstehen konnte. Als Kaplan Steenaertz 1847 versetzt wurde, wählten die Gesellen Kolping zu ihrem Präses, den die übernommene Aufgabe immer stärker fesselte, der hier endlich seine Lebensaufgabe fand. In einem Brief vom 29.11.1848 an Ignaz Döllinger, in dem Kolping zum ersten Mal vom Gesellenverein und seinem Engagement für diesen Verein spricht, gibt er selbst klare Auskunft über diesen für seinen weiteren Lebensweg so bedeutsamen Schritt, wobei er zugleich all jene Auffassungen widerlegt, die bereits zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt bei Kolping das konkrete Ziel eines späteren Wirkens für die ehemaligen Standesgenossen sehen wollen. Kolping schreibt, nachdem er kurz über den Verein berichtet und die Hoffnung geäußert hat, diesen über Elberfeld ausbreiten zu können: Ich muss gestehen, seit dieser Vereinsplan bei mir zur Reife gekommen, bin ich mir erst über mich selbst recht klar geworden, ich möchte sagen, sind mir die Wege Gottes erst zur Deutung gekommen. Während meines Aufenthalts in München und später trug ich mich insgeheim mit dem Gedanken herum, mich wissenschaftlichen Studien zu widmen ..., und doch fand ich nie Gelegenheit, diesen Wünschen nachzukommen ...Wie von selbst dagegen fand ich mich immer wieder unter dem Volke, aus dem mich Gottes Hand herausgeführt. Seit ich in unserem Verein aber wieder mit dem Volke volkstümlich verkehre, ist die Lust an wissenschaftlichen Studien gewichen, glaube ich gar zu bemerken, dass ich dazu im Grunde sehr wenig geeignet bin, dagegen finde ich mich in einer solchen Volksprofessur ganz in meinem Elemente. Ich glaube, es dürfte vielen so ergehen, wenn die Praxis sie erst über sich selbst aufklärte.

Sobald Kolping sich über diese seine Berufung klar geworden war, fasste er den Plan, den Gesellenverein auszubreiten. Im bereits zitierten Brief heißt es dazu: Ich brenne vor Verlangen, diesen Verein noch im ganzen katholischen Deutschland eingeführt zu sehen ...In unserer Zeit, wo die soziale Frage sich mit der religiösen entschieden in der Vordergrund drängt, wo die Umstände uns gewissermaßen mit Gewalt ins Volk werfen, ist der Verein ein herrliches Mittel, an der Lösung obiger Fragen tätig zu arbeiten, uns zugleich als wahre Volksfreunde zu zeigen. Vom Jahr 1848 an - seit jenem Revolutionsjahr also, das der katholischen Kirche einen erheblichen Fortschritt im Bemühen um größere Unabhängigkeit von staatlichem Einfluss brachte, wobei sich die neue Freiheit gerade auch in einem raschen Aufblühen des katholischen Vereinswesens manifestierte, von dem die Katho-likentage ihren Ausgang nahmen, deren erster in eben diesem Jahr stattfand, ebenso wie auch die erste Zusammenkunft der deutschen Bischöfe - bemühte sich Kolping aktiv um die Ausbreitung des Gesellenvereins. Zu Ende dieses Jahres veröffentlichte er seine erste programmatische Schrift ‚Der Gesellenverein‘, in der er Ausgangslage und Anliegen seines Wirkens darstellte und zu entsprechenden Aktivitäten aufrief. Kolping hatte im übrigen längst erkannt, dass seinen Wirkmöglichkeiten in Elberfeld Grenzen gesetzt waren, dass eine weit erfolgreichere Aktivität von Köln aus möglich sein würde, der Metropole des westlichen Deutschlands. Nach entsprechenden Versetzungsgesuchen erhielt er 1849 eine Stelle als Domvikar in Köln, wo dann mit der Gründung des Gesellenvereins am 6. Mai 1849 der Grundstein für die Schaffung eines Werkes gelegt wurde, das bis 1865, dem Todesjahr Kolpings, schon über zwanzigtausend Mitglieder in mehr als vierhundert Vereinen zählte.

 

Schon im Herbst des Jahres 1849 entstand in Düsseldorf der dritte Gesellenverein, im Laufe des Jahres 1850 kamen die Vereine in Bonn und Hildesheim hinzu. Diese drei ältesten Vereine schlossen sich am 20. Oktober 1850 in Düsseldorf zum ‚Rheinischen Gesellenbund‘ zusammen; die entsprechende Versammlung wurde im nachhinein als ‚Erste Generalversammlung der Vorstände des Gesellenbundes‘ bezeichnet. Der 20. Oktober 1850 kann und muss also als eigentliches Gründungsdatum des Kolpingwerkes als Verband gesehen werden, d.h. als überörtlicher Zusammenschluss lokaler Vereine mit entsprechender struktureller resp. satzungsmäßiger Ausformung.

Kolpings Bericht über die Versammlung führt zur Begründung der Verbandsgründung) aus: Am 20. Oktober versammelten sich zu Düsseldorf nach vorhergegangener freundlicher Einladung des Präses des Kölner Gesellenvereins die Vorstände der Gesellenvereine von Köln, Elberfeld und Düsseldorf, um das unter dem 2. Februar d[es] J[ahres] entworfene, am 16. Februar in der ‚Deutschen Volkshalle‘ mitgeteilte ‚allgemeine Vereinsstatut des Rheinisch-Westfälischen Gesellenbundes‘ als Bundesstatut zu beraten und definitiv festzustellen. In der Einleitung wurde damals gesagt, dass ‚bei der Bildung und Leitung dieser Vereine es augenfällig geworden, dass sie, wären sie bloß auf sich allein hingewiesen, ohne lebendigen Verband mit Vereinen anderer Städte, welche dasselbe Ziel verfolgen, nicht dasjenige auszurichten vermöchten, was sie eigentlich wollen. Dem Gesellen soll in dem Vereine eine Art Heimat bereitet werden, ein Familienhaus soll ihn aufnehmen, worin er Ausbildung, Schutz und Pflege findet; dies aber nicht bloß an einem Orte, sondern überall, wohin sein wandernder Sinn ihn führt und neue Arbeitslust ihn festhält. Überall sollen gleichgesinnte Brüder sich seiner annehmen, überall dieselbe liebende Sorge um ihn wandeln, die er am früheren Orte zurückgelassen. Fremd soll sich der Geselle endlich in keiner Stadt Rheinlands und Westfalens mehr einen Tag lang finden; wie überall sich ihm eine freundliche Hand entgegenstreckt, ist er einmal in den Bund, den wir zu schließen beabsichtigen, aufgenommen, so soll ein sorglich' Auge stets über ihm wachen. Damit das aber möglich und wirklich werde, müssen die einzelnen Vereine in eine freundschaftliche Verbindung untereinander treten und einen lebendigen Verkehr untereinander zu erhalten suchen. Dies wird aber nicht möglich sein, wenn sie nicht zuerst sich über bestimmte Grundsätze einigen, welche als allgemeines Bundesstatut für jeden Lokalverein leitende Norm seiner Einrichtung und Leitung sein müssen.

Notwendigkeit und Funktion des Verbandes werden also begründet bzw. definiert als ‚Instrumentarium‘ zur gemeinsamen und verbindlichen Festlegung allgemeiner Grundsätze (Regelungen), und zwar sowohl für die im weitesten Sinne verstandene Zusammenarbeit der bestehenden Vereine als auch für die einzelnen Vereine selbst, damit diese ihre Aktivitäten an einer gemeinsamen Zielvorgabe ausrichten konnten, damit sie ihren ‚lebendigen Verkehr untereinander‘ auf der Basis gleicher und damit auch verlässlicher Regelungen pflegen konnten und damit in der Konsequenz die Mitglieder überall auf weitgehend gleiche oder vergleichbare Rahmenbedingungen treffen konnten. Bis in die Gegenwart sind diese Elemente konstitutive Merkmale verbandlicher Satzungen auf der überörtlichen Ebene, unbeschadet ihrer Entwicklung im Wandel der Zeit.

 

3. Sozialer Wandel durch Veränderung des Menschen

Kolpings Leben fällt – wie gezeigt – in eine Zeit tiefgreifenden Wandels, ja des radikalen Umbruchs in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Grundlegend und spürbar verändern sich in wenigen Jahr-zehn-ten die Lebensbedingungen der meisten Menschen. Traditionelle gesellschaftliche Ordnungselemente verschwinden. Der einzelne gewinnt damit ein größeres Maß an individueller Freiheit. Die Befreiung aus traditionellen Abhängigkeiten bedeutet wachsende Spielräume zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung; dem steht aber der zunehmende Ver-lust sozialer Bindung – im Sinne des Eingebunden- und Getragen-Seins durch entsprechende Strukturen – gegenüber; zugleich lässt sich ein Prozess feststellen, der in wachsendem Masse zum Verlust bzw. zur Aufgabe weltanschaulicher Bindung resp. Orientierung führt.

Auch ist diese Zeit charakterisiert durch einen zunehmenden weltanschaulichen Konkurrenzkampf, wo dem bislang dominierenden Christentum einflussreiche Rivalen erwachsen durch den Liberalismus und den aufkommenden Sozialismus. Nicht zu vergessen ist hier natürlich der immer lautere Ruf nach gesellschaftlicher Mitwirkung und Mitverantwortung, nach Demokratie (Partizipation), nach bürgerlichen Rechten, nach Mei-nungs- und Pressefreiheit, etc., in dessen Konsequenz das politische Geschehen und das gesellschaftliche Leben insgesamt durch neue Interessenlagen und Organisationsformen geprägt und beeinflusst werden.

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang schließlich daran, dass ja die Zeit Kolpings nicht nur durch weitreichende Neuerungen in vielen Bereichen von Naturwissenschaft und Technik und damit auch Information, Kommunikation und Verkehr (Stichworte Dampfschiff, Eisenbahn und Telegraph) sondern – in der Konsequenz – gerade auch durch das Aufkommen einer neuen (kapitalistischen) Wirtschaftsweise geprägt ist, wo sich gerade mit der beginnenden resp. durchsetzenden Industrialisierung die Vollzüge und Beziehungen, Bindungen und Abhängigkeiten in der Arbeitswelt weithin verändern, und dies mit zumindest teilweise dramatischen Folgen für betroffene Menschen.

Adolph Kolping sieht bzw. erlebt die eigene Zeit geprägt durch Wandel und Umbruch; und dies keineswegs erst im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im katholischen Gesellenverein! Er hat ja in den ersten Jahrzehnten seines Lebens (als Lehrling, Geselle, Schüler, Student) eine außerordentliche Vielfalt von Erfahrungen in den verschiedensten Bereichen machen können bzw. müssen! Briefe und Tagebucheinragungen aus dieser Zeit geben jedenfalls eine beredtes Zeugnis dafür, dass Adolph Kolping ein äußerst aufmerksamer und kritischer Zeitgenosse war, der sozusagen mit offenen Augen durch seine Welt gegangen ist.

Nun kommt aber das Entscheidende in Kolpings Zeitkritik: Für ihn läuft die ganze Gesellschaft Gefahr oder ist mehr oder weniger schon mitten dabei, quasi aus den Fugen zu geraten. ‚Unordnung’ macht sich breit, Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten sind die Folge. Fragt man in diesem Zusammenhang nach den prägenden Einflüssen für Kolpings Denken, so müssen wohl die verschiedensten Elemente berücksichtigt werden, von den Erfahrungen in der (eigenen) Familie und der Schulzeit in Kerpen über die Jahre im Schuhmacherhandwerk und auf dem Kölner Marzellengymnasium bis zum Studium in München und Bonn. Tatsächlich lassen sich jedenfalls die wesentlichen Grundlinien seines Denkens über Mensch und Gesellschaft bereits in den frühesten erhaltenen Quellen (Briefe und Tagebucheinträge) erkennen, auch wenn dies im Detail hinsichtlich der entsprechenden Wurzeln resp. Einflüsse nicht nachvollzogen werden kann, auch deshalb nicht, weil Adolph Kolping selbst in seiner gesamten schriftlichen Hinterlassenschaft nie genauere Auskunft über entsprechende (prägende) Einflüsse gegeben hat.

In der Beurteilung der eigenen Wirklichkeit kommt nachdrücklich Kolpings christliches Menschenbild zum Tragen: Jeder einzelne ist demnach aufgerufen und aufgefordert, mit allen Kräften seiner Bestimmung nachzukommen. Der Mensch ist als Geschöpf Gottes sowohl mit einer bestimmten Ausstattung wie mit einer bestimmten Aufgabe in diese Welt gestellt. In der Er-füllung seines Auftrages hat er durch die Aus-schöpfung / Nutzung aller sei-ner Fähigkeiten und Möglichkeiten seine über dieses irdische Dasein hinausgehende Bestimmung zu verwirklichen und zugleich an der Vollendung dieser Welt mitzuwirken. Damit ist ausdrücklich die Verpflichtung zur Wahrnehmung sozialer Verantwortung eingeschlossen. Gesellschaftliches Leben insgesamt und damit auch alle sozialen Gebilde sind für Kolping auf diese Bestimmung des Menschen hingeordnet bzw. auszurichten. Grundsätzlich ist somit Gesellschaft in allen Aspekten nicht Selbstzweck, sondern auf den Menschen und seine Bestimmung bezogenes Instrumentarium; konsequent darf gesellschaftliches Leben in all seinen Facetten dann nicht ohne Bezug zu den Grundbefindlichkeiten des Menschen gesehen und gestaltet werden.

Die aktuellen gesellschaftlichen Verhält-nisse hindern nun aber nach seiner Auffassung Menschen daran (zumindest behindern sie Menschen dabei), etwas aus sich zu machen, all ihre Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln und die ihnen erreichbare berufliche und damit auch gesell-schaftliche Stellung zu erreichen. Hier spielt der Begriff ‚Selbständigkeit’ eine wichtige Rolle, und zwar nicht nur im Sinne einer unabhängigen wirtschaftlichen Existenz.

Letztlich sieht Kolping die Defizite in der erlebten Wirklichkeit in dem Bemühen – und dies sowohl hinsichtlich einer geistig-weltanschaulichen Begründung als auch mit Blick auf entsprechendes politisches und gesellschaftliches Agieren – um Befreiung resp. Lösung des Menschen (und damit auch der Gesellschaft) von Gott, d.h. von im weitesten Sinne verstandenen Vorgaben des Schöpfers und Herrn der Erde und der Menschheit. In diesem Sinne konstatiert er in seiner ausgeprägten Zeitkritik Entwicklungen, die das menschliche (gesellschaftliche) Zusammenleben von derartigen Rück-sichten befreien (wollen), wo schrankenloser Egoismus und hemmungslose Ausbeutung von Mensch und Natur um sich greifen und wo der Bezug zu gemeinsamen Grundlagen (Wertvorstellungen) verloren zu gehen droht oder gar schon verlorengegangen ist.

In der Konsequenz ergibt sich für Kolping eine doppelte, eng zusammenhängende Zielsetzung (Aufgabenstellung), nämlich die ganz unmit-tel-bare Hilfestellung für Menschen in bedrängter Lage und die Veränderung der als unzureichend erkannten gesellschaftlichen Verhältnisse. Damit ist zum einen die praktische Arbeit im katholischen Gesellenverein angesprochen (s.o.), zum anderen weiter gehende Dimensionen im Wirken Kolpings, gerade auch als Volksschrifsteller, wo z.B. das Thema Familie einen besonderen Stellenwert einnimmt.

In diesem Zusammenhang nimmt der Begriff ‚Tüchtigkeit’ eine wichtige Rolle ein, wie er im Verband lange Zeit in den sog. vier Devisen (der tüchtige Christ, Meister, Familienvater und Bürger) tradiert wurde. Der Christ ist ja - so Kolping - verpflichtet, seine ihm gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten in allen Lebensbereichen zu entwickeln und wahrzunehmen. Tüchtig ist er in dem Maße, wie er diese Aufgabe (Verpflichtung) im alltäglichen Leben verwirklicht, d.h. sich um die entsprechende Verwirklichung bemüht. Christ-Sein realisiert sich insofern vor allem in der alltäglichen Lebenswirklichkeit. Umgekehrt gilt: Tüchtigkeit im Leben ist (letztlich) nicht ohne religiöses Fundament möglich; Tüchtigkeit im Beruf, in der Familie und in der Gesellschaft erfordert (eigentlich) eine klare religiöse Grundlage.

Zur Linderung der ‚Nöte der Zeit‘ war darum für Kolping die Anregung und Befähigung des Menschen zum überzeugten und überzeugenden Christ-Sein und damit zur Tüchtigkeit in allen Lebensbereichen zentrales Erfordernis, sowohl für den einzelnen als auch für einen umfassenden sozialen Wandel. Für Kolping stand bei der Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung nicht der revolutionäre Umsturz bestehender Verhältnisse oder ein durch politisches Handeln bewirkter Wandel im Vordergrund: Er konnte von seinem Ansatz her nicht am einzelnen vorbeigehen oder gar über ihn hinweggehen. Jeder einzelne Mensch ist in seiner Sicht ganz unmittelbar aufgefordert und berufen, seinen Teil zur Veränderung, d. h. zur Verbesserung der Welt beizutragen. Jeder soll (und muss eigentlich), in seinem Kreis das Beste tun, damit es in der Welt besser werden kann. Niemand kann sich also mit vorgeblicher Ohnmacht oder vermeintlicher Bedeutungslosigkeit vom Mittun an der Gestaltung der Welt distanzieren. Tüchtigkeit ist hier wiederum der zentrale Begriff und Ansatz Kolpings: Der einzelne soll als Christ im Beruf, in der Familie und in der Gesellschaft tüchtig sein bzw. Tüchtigkeit erwerben, um dann sein Leben entsprechend zu gestalten und damit die gesellschaftliche Realität mit zu prägen und zu verändern.

Insofern kann für diese auf Langzeitwirkung angelegte Zielsetzung Kolpings die zusammenfassende Formel ‚Sozialer Wandel durch Veränderung des Menschen‘ gebraucht werden. Das ganze Bemühen um Hilfe für Menschen in Not konnte im Übrigen von Kolpings Menschenverständnis her nur als ‚Hilfe zur Selbsthilfe' verstanden und konzipiert werden: Bei aller Beeinflussung durch gesellschaftliche Verhältnisse ist und bleibt der einzelne für sein Tun und seine Entwicklung verantwortlich.

 

Einige weiterführende Hinweise zum Stichwort ‚Kolping und die soziale Frage’ sollen hier noch eingeblendet werden, insoweit sie das Gesagte näher erläutern und mit entsprechenden Aussagen belegen:

Der allgemeine Zug der Gesellschaft fährt auf recht breiter Fahrstraße immer mehr aus der Übung des Christentums hinaus. Das ist das Ergebnis der Trennung der Religion von allen sog. bloß irdischen Fragen; das ist die große allgemeine Versündigung an der Gesellschaft, und diese Versün-digung hat uns das große soziale Elend bereitet.

Dieser Gedanke Kolpings trifft den Kern seiner Beurteilung der erlebten Wirklichkeit, wie sie sich in seinem Schrifttum an zahlreichen Stellen in gleicher Deutlichkeit findet. Die versuchte Trennung zwischen Religion und Welt wird deshalb als die große Versündigung an der Gesellschaft verstanden, weil für Kolping eine solche Trennung der Natur des Menschen als Geschöpf Gottes widerspricht: Der Mensch und sein ganzes Leben, wie es sich auch sozial gestalten mag, ist (!) von Natur aus religiös, weshalb auch alle menschlichen Verhältnisse, sie mögen auch noch so weltlich aussehen, mehr oder minder mit der Reli-gion zusammenhängen und von ihr wirkliche Bedeutung und inneren, wahrhaften Gehalt empfangen.

Umfassender noch begründet Kolping diese Position an anderer Stelle: Auf dem Glauben ruht das Leben; das soziale Leben ist der lebendige Ausdruck des Glaubens, mag es beschaffen sein, wie es will. So allgemein und offen dieser Gedanke klingt, so muss doch deutlich betont werden, dass für Kolping nur das Christentum Anspruch auf Wahrheit erheben kann: Enthält das Chri-stentum Wahrheit, dann enthält es auch die unabweisbare ganze Wahrheit. Unmissverständlich wird for-muliert: Diese Religion - es versteht sich von selbst, dass wir nur die christliche im Sinne haben können - zeigt der menschlichen Seele ihr klares, sicheres Ziel, ihr Wesen und ihre Bedeutung in ihrem rechten Lichte und gibt auch dem menschlichen Leben die allein rechte Richtung. Die ganze sittliche Weltord-nung ruht auf religiösen Grundpfeilern, die man Glaubenssätze nennen kann. Mit ihnen hängt alles, nur das eine näher, das andere entfernter, zusammen, was Menschen auf dieser Welt nur tun und treiben. So-ziales Leben, Politik, Volks-wirtschaft, und wie alle die Dinge heißen, die bloß irdisch und weltlich aussehen, hängen alle mehr oder minder mit jenen Grundpfeilern zusammen.

Eben dieser Ansatz erklärt, dass und warum Adolph Kolping bei seiner Beurteilung der Zeitverhältnisse in der Regel sehr allgemein ansetzt. Aktuell erlebte und erfahrene Probleme konnten so nicht vorschnell in kausalen Zusammenhang mit einzelnen Ursachen gebracht werden, die tiefergehende Analyse führt Kolping vielmehr immer wieder zu der Kernthese zurück, dass der Abfall vom Christentum in der sozialen oder politischen Welt die Ursache unendlicher Leiden ist, unter denen die Welt seufzt und die noch über sie hereinbrechen. Konsequent führt dies zu der Überzeugung: Die Gegensätze, welche die Welt radikal zu bewegen anfangen, bestehen zwischen Christentum und Glauben und Nichtchristentum und Unglauben.

 

Der Begriff ‚Soziale Frage’ taucht im Schrifttum Kolpings nur vereinzelt auf und auch dann nicht in enger Eingrenzung auf die Arbeiterfrage, sondern als umfassende Kennzeichnung eines Problemfeldes, das sich ganz allgemein als Frage der aktuellen und zukünftigen Gestaltung menschlichen Zusammenlebens kennzeichnen lässt. Der wahre Streit in unseren Tagen ist ein Streit um die tiefste Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Eben dies ist für Kolping die Soziale Frage schlechthin, wobei zur Kennzeichnung aktueller Missstände - im allgemeinen wie im speziellen – häufiger Begriffe wie ‚soziales Elend’, ‚soziales Leid’ oder ‚soziale Verwirrung’ Verwendung finden. Natürlich übersieht Kolping bei aller Tiefgründigkeit der Analyse nicht die konkreten und vielfach bedrückenden Nöte und Sorgen der Menschen in seiner Zeit; das Wirken im Gesellenverein legt beredtes Zeugnis dafür ab, dass gerade Kolping - anders als mancher Sozialreformer seiner Zeit - dem eigenen Gedanken gefolgt ist, wonach Worte und Empfindungen zwar gut sind, aber die Taten nicht aufwiegen. Entscheidend ist aber, dass Überlegungen zur Lösung der Sozialen Frage vom gleichen umfassenden Ansatz geprägt sind wie die Analyse der Situation selbst.

Unser soziales Leid liegt in der sehr allgemeinen Gewissenlosigkeit, in dem praktischen Mangel an wahrer Religiosität; und da wir nur eine wahre Religion kennen, das Christentum, so reduziert sich die ganze gewaltige und schneidende Klage über unser großes soziales Elend auf die leidige Tatsache, dass das öffentliche Leben nach sehr vielen Seiten hinaus von seinem wahren Grunde gewichen, das Christentum verlassen hat. Natürlich handelt es sich hier auch für Kolping um einen langfristigen Entwick-lungsprozess und nicht um ein plötzliches Ereignis, welches an bestimmten Daten festgemacht werden könnte. Immerhin, vom Zentrum der Kolpingschen Lagebeurteilung aus kann es zur Lösung der ganz all-gemein verstandenen Sozialen Frage eigentlich nur einen Weg geben, nämlich den einer umfassenden christlichen Erneuerung.

Ein solcher Weg bzw. das entsprechende Bemühen kann sich nicht vorrangig auf die Veränderung von Strukturen orientieren und konzentrieren; denn äußere Macht und Gewalt bessern ja die Menschen nicht, und doch liegt für die Ruhe und den Frieden der Welt alles daran, dass die Menschen besser werden. Immer wieder betont Kolping, dass äußere Reformen nichts nutzen, solange die Menschen nicht gebessert sind; folgerichtige Konsequenz seiner Überzeugung, dass die heutige soziale Verwirrung weitaus mehr ein Ergebnis menschlicher Verschuldung ist, als dass man sie der Ungunst der Zeit könnte zur Last legen. Weil es so ist, deshalb helfen bloß oder vorherrschend materielle Verbesserungen wenig oder doch nicht auf die Dauer. Wo das Übel seinen Hauptsitz hat, dort muss die Heilung beginnen, und jedes Mittel, das zur Linderung oder Aufhebung vorhandener Übel nicht rückwirkt auf die moralische Besserung, die ohne positives Christentum schlechterdings unmöglich ist, kann nur fehlschlagen.

 

In diesem Sinne trifft für Kolpings Vorstellung von einer als unabdingbar notwendig erachteten positiven Veränderung die schon genannte Formel ‚sozialer Wandel durch Veränderung des Menschen’ zu. Wenn - ganz allgemein gesagt - der Bedeutungsrückgang des Christentums für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse Folge gewandelter Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen ist, so kann natürlich eine tatsächliche Umkehr auch nur über eine Neubesinnung des Menschen mit Erfolg angegangen und bewerkstelligt werden. Wir dürfen es vor aller Welt behaupten, dass nur die Verletzung der christlichen Liebespflichten unter den Menschen unsere gesellschaftlichen Leiden erzeugt. Aber was folgt daraus? Doch nur zunächst, dass wir untereinander kräftiger und herzhafter das Christentum üben und dadurch zur Geltung bringen.

Praktiziertes Christentum als Schlüssel zur Lösung der Sozialen Frage - selbst bei der intensiven Auseinandersetzung mit einzelnen aktuellen Fragen und Entwicklungen kommt dieser grundlegende Gedanke Kolpings immer wieder in den Blick. Zugleich wird deutlich, dass und warum Kolping seine Auseinandersetzung mit der sozialen Frage - theoretisch, d. h. im Schrifttum, wie praktisch, d. h. im Gesellenverein - nicht beschränkt hat und nicht beschränken konnte auf bestimmte Ausschnitte der gesellschaftlichen Realität bzw. auf bestimmte Einzelbereiche des menschlichen Daseins. Wenn es zutrifft, dass diese irdische menschliche Gesellschaft am aller-meisten dieses tätigen Glaubens bedarf, dass sie krankt und leidet, für alle anderen Mittel unheilbar in demselben Maße, als sie sich von ihm abwendet, ihm entfremdet wird oder nicht von ihm erreicht werden kann, dann gilt dies - aus der Perspektive des einzelnen - nicht allein für die Arbeitswelt, sondern ebenso gut für die Familie, dann ist neben der beruflichen und familiären Situation des einzelnen auch seine Situation als Staatsbürger im Blick, selbst sein Freizeitverhalten. Die ganzheitliche Perspektive durchzieht das Schrifttum Kolpings, wo sich kaum ein Beitrag von grundsätzlicher Bedeutung findet, der ganz eng auf einen bestimmten Sachverhalt zugeschnitten wäre. Es wird darauf ankommen, das Christentum dem Geiste und der Praxis nach ins wirkliche gesellschaftliche Leben hineinzutragen.

Eben dieses wirkliche gesellschaftliche Leben in seiner Ganzheit und unter Einschluss der vielfältigen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Lebensbereichen sollte nach dem Willen Kolpings auch das Arbeitsfeld des Katholischen Gesellen-vereins sein, den er als einen wichtigen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage verstand.

Angesichts radikaler Veränderungen in allen Bereichen von Gesellschaft und - damit zusammenhängend - der wachsenden Notlage vieler Menschen seiner Zeit - materielles Elend, soziale Iso-lie-rung und geistige Orientierungslosigkeit - erkannte Adolph Kolping die Notwendigkeit eines aktiven und entschlossenen Engagements von Christen in der Welt und für die Welt: Das Christentum muss aufs Neue die Welt erobern. Kolping blieb nicht bei einer solchen Erkenntnis stehen und beschränkte sich auch nicht auf theoretische Abhandlungen über die Probleme seiner Zeit und die sich daraus ergebenden Aufgaben; vielmehr suchte und fand er praktische Wege, um ganz unmittelbar seinen Beitrag zur Lösung aktueller Aufgaben und Herausforderungen zu leisten.

 

Für Kolping konnten sich positive Entwicklungen und Veränderungen nicht vorrangig durch Strukturwandel - sei es durch reformerische Aktivitäten, sei es durch revolutionären Umsturz - bewirken lassen, entscheidend war für ihn vielmehr der bei jedem einzelnen notwendigen Wandel von Einstellungen und Verhaltensweisen. Insofern gab es für Kolping die klare Priorität der Gesinnungsreform vor der Zuständereform.

Eben dieser Hintergrund, gepaart mit der aus praktischer Lebenserfahrung gewonnenen Einsicht, dass Men-schen miteinander in der Regel mehr zu erreichen vermögen als jeder für sich allein, führte zu Kolpings Engagement im Gesellenverein als einer Gemeinschaft Gleichgesinnter mit dem grundlegenden Ziel, Menschen anzuregen und zu befähigen, ihr Leben als tüchtige Christen zu gestalten und dadurch zur Veränderung der Welt beizutragen.

 

4. Kolpings Aktualität

Unsere Zeit ist nicht mehr die Adolph Kolpings, auch wenn viele der damals vollzogenen Entwicklungen und Wandlungen bis heute nachwirken und damit auch unsere Gegenwart mit prägen. Und dennoch messen wir seiner ‚Idee‘ eine zeitlose Gültigkeit oder Aktualität zu, offenkundig bestätigt durch die gerade in den letzten Jahrzehnten erfolgte erfolgreiche weltweite Ausbreitung unseres Werkes. Wenn wir nun nach der Aktualität Kolpings resp. seines Wirkens fragen, wird uns der Blick auf Ziele und Praxis des katholischen Gesellenvereins, wie im Kapitel 1 dargestellt und im Kapitel 2 näher eingeordnet, kaum weiterhelfen. Anders sieht es aber aus, wenn wir die grundlegenden Gedanken Kolpings über Mensch und Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit der aktuell erlebten Wirklichkeit, wie im Kapitel 3 dargestellt, noch einmal unter dem Blickwinkel unserer Tage anschauen.

 

Thesenhaft dazu folgende Hinweise:

 

Bestimmung des Menschen (christliches Menschenbild)

Zweifellos ist und bleibt es aktuell, Menschen (Christen) immer wieder auf ihre Bestimmung (im Sinne auch und gerade einer konkreten Herausforderung bzw. Aufgabe für die individuelle Lebensgestaltung) hinzuweisen. Vielleicht (wahrscheinlich sogar) ist dies heute nötiger als zu Kolpings Zeiten, wo doch ein zunehmender Verzicht auf weltanschauliche Orientierung und Bindung festgestellt werden kann.

 

Hilfe für Menschen in bedrängter Lage (Hilfe zur Selbsthilfe)

Konkrete gesellschaftliche (im weitesten Sinne verstanden) Gegebenheiten und Problemlagen sind in der Welt von heute außerordentlich vielschichtig und unterschiedlich. Sicher aber gibt es kein einziges Beispiel dafür, dass es irgendwo auf der Welt absolut ‚problemlos’ zuginge. Überall gibt es Menschen in Not; überall bedürfen Menschen der Hilfe und Zuwendung, der Solidarität und der Gerechtigkeit. Der Begriff ‚Not’ darf dabei nur nicht auf eine materielle Dimension reduziert werden. Auch Kolping selbst hat sehr wohl Dimensionen von sozialer und geistiger Not erkannt und in seiner Arbeit berücksichtigt, immer aber unter dem Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe.

 

Bedeutung von Gemeinschaft (Heimat)

Als zugleich Individuum und Sozialwesen ist und bleibt der Mensch auf die (gemein-schaftliche) Verbundenheit mit anderen angewiesen, ob er dies nun wahrhaben will oder nicht. Nach wie vor auch bedeutet das gemeinsame Tun zur Erreichung bestimmter Zwecke einen entscheidenden Vorteil gegenüber einem bloß individuellen Bemühen. Insofern bleibt auch das Konzept der Gemeinschaftsbildung aktuell, ist es vielleicht sogar noch aktueller geworden angesichts mannigfaltiger Entwicklungen in Richtung auf immer stärkere Individualisierung und Vereinzelung des Menschen.

 

Notwendigkeit zur Weltgestaltung (Weltverantwortung des Christen)

Mit seinen Gedanken zur aktiven und unmittelbaren Weltverantwortung des Christen scheint Kolping geradezu von prophetischer Weitsicht, nachdem doch weithin eher eine eng verstandenes Bemühen um Rettung der eigenen Seele im Vordergrund stand. Themen und Probleme wie Globalisierung, internationale Gerechtigkeit und Solidarität, Bewahrung der Schöpfung waren zu seiner Zeit (noch) nicht aktuell. Um so aktueller sind heute diese Gedanken!

 

Christliches Gesellschaftsverständnis (Katholische Soziallehre)

Kolping hat mit seinem Wirken Grundelemente der erst viel später ausformulierten katholischen Soziallehre praktisch geprägt und gewissermaßen vorweggenommen. Im Kern geht es hier um die Überzeugung von bestimmten zentralen Wahrheiten (vor allem die Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität), die das Zusammenleben des Menschen in Gesellschaft bestimmen müssen (sollen), wenn gesellschaftliches Leben der Würde und Bestimmung des Men-schen entsprechen soll. Wer könnte bestreiten, dass dieser Aspekt wiederum heute von eher noch größerer Bedeutung ist!?

 

Zusammenfassend können die Nöte der Zeit aus heutiger Sicht – speziell für den west- bzw. mitteleuropäischen Kontext – in Kurzform so beschrieben werden:

Der zeitgenössische Mensch sucht und braucht Gemeinschaft, den Kreis Gleichgesinnter, wo er sich wohl fühlen kann, wo er sich angenommen und geborgen weiß. Er braucht und sucht Orientierung im Sinne von Antworten auf die Sinnfragen des Lebens, also im Blick auf Standortfindung und Perspektive, Handlungsimpulsen und -leitlinien. Er braucht und sucht schließlich Lebenshilfe im Sinne des Sich-Zurechtfinden-Könnens in einer immer komplizier-ter, unüberschaubar werdenden Welt. Unsere Zeit (Gesellschaft) braucht schließlich, um lebens - resp. überlebensfähig zu sein (zu bleiben), das Engagement (Mittun) vieler Einzelner, und dies getreu der Devise Kolpings, wonach die Welt nur besser werden kann, wenn jeder an seinem Platz das Beste tut.

 

Für die Zukunftsgestaltung kolpingspezifischer Arbeit gibt es keine Patentrezepte, schon gar nicht auf überörtlicher oder gar internationaler Ebene. Aber einige Hinweise sind möglich, worauf wir in der Verant-wor-tung in und für solche Arbeit besonderes Augenmerk zu lenken haben.

Wesentliche Hinweise verbinden sich mit dem Begriff Weggemeinschaft. Einige Stichworte zu diesem schillernden Begriff: Gemeinsam unterwegs sein, sich auf einem Weg verbunden wissen (Gemeinschaft), eine klare Zielperspektive vor Augen haben (Richtung), überzeugt sein von der Richtigkeit und Wichtigkeit des gemeinsamen Weges und des Zieles (Fundament), in Bewegung sein und nicht stehen bleiben, auf Wegmarkierungen, Hinweise und Zeichen achten (Realitäten des Umfeldes, z.B. Nöte der Zeit), offen und einladend sein für Menschen, die sich dazugesellen wollen und können (Offenheit), Abweichungen vom richtigen Weg ertragen und auffangen können (Einheit und Vielfalt), Verbindungen halten und nach den Langsameren schauen, Hilfestellung leisten zum Mitkommen (Solidarität), die eigenen Kräfte ausschöpfen und richtig nutzen (Subsidiarität), sich nicht verstecken, sondern Flagge zeigen (Selbstdarstellung), Hindernisse überwinden oder klug umgehen (Mut und Intelligenz), nicht verzagen, wenn auch das Ziel aus dem Blickfeld gerät und keine Wegweiser gefunden werden (Selbstverantwortung und Selbstbewusstsein), nicht auf andere warten, die vorangehen sollen (Verantwortung), Hinzukommende mit den Zielen und Rahmenbedingungen des Weges vertraut machen (Schulung), nicht ängstlich sein bei breiterem Ausschwärmen von einzelnen (Toleranz), gegebenenfalls auch unkonventionelle Pfade suchen und beschreiten, etc.

Weggemeinschaft im Glauben und Handeln, in Bildung und Aktion - dieser Gedanke enthält zuerst und vor allem eine dynamische Perspektive: Handeln ist gefragt, Aktion, Wirken, nicht bloßes Schauen und Betrachten, nicht nur Debattieren oder gar nur Klagen. Gerade das hat ja das Werk Adolph Kolpings zu allen Zeiten ausgezeichnet, dieses mutige und tatkräftige Zupacken, die praktische Solidarität mit Menschen in Not, die Ernstnahme der Fragen und Nöte der Zeit. Aber mit dem Handeln allein ist es nicht getan, es geht nicht um bloßen Aktionismus, sondern um bewusstes, reflektiertes Handeln. Einheit von Theorie und Praxis ist ein Stichwort, Idee und Tat ein anderes. Was hier gemeint ist, ist ein Doppeltes: Zum einen das klare eigene Fundament, konkret unser christlicher Glaube, der Maßstäbe und Handlungsimpulse liefert, zum anderen die nüchterne und kritische Auseinan-dersetzung mit der erlebten Wirklichkeit, von wo aus dann - unter dem Aspekt des weltanschaulichen Fundamentes her - konkrete Aufgaben formuliert werden.

In diesem Zusammenhang taucht zwangsläufig die Frage die Frage nach ‚pädagogischen’ Grundprinzipien der Arbeit Kolpings auf. Angesichts radikaler Veränderungen in allen Bereichen von Gesellschaft und - damit zusammenhängend - der wachsenden Notlage vieler Menschen seiner Zeit - materielles Elend, soziale Isolierung und geistige Orientierungslosigkeit – erkannte er die Notwendigkeit eines aktiven und entschlossenen Engagements von Christen in der Welt und für die Welt: Das Christentum muss aufs Neue die Welt erobern. Kolping blieb nicht bei einer solchen Erkenntnis stehen und beschränkte sich auch nicht auf theoretische Abhandlungen über die Probleme seiner Zeit und die sich daraus ergebenden Aufgaben; vielmehr suchte und fand er praktische Wege, um ganz unmittelbar seinen Beitrag zur Lösung aktueller Aufgaben und Herausforderungen zu leisten.

In wenigen Strichen sollen unter diesem Aspekt Grundelemente seines Wirkens skizziert werden, und zwar gerade unter dem Aspekt ihrer aktuellen Bedeutung.

Für Kolping konnten sich positive Entwicklungen und Veränderungen nicht – wie schon betont – vorrangig durch Strukturwandel, sei es durch reformerische Aktivitäten, sei es durch revolutionären Umsturz, bewirken lassen, entscheidend war für ihn vielmehr der bei jedem einzelnen notwendigen Wandel von Einstellungen und Verhaltensweisen. Insofern gab es für Kolping die klare Priorität der Gesinnungsreform vor der Zuständereform.

Dieser Hintergrund, gepaart mit der aus praktischer Lebenserfahrung gewonnenen Einsicht, dass Menschen miteinander in der Regel mehr zu erreichen vermögen als jeder für sich allein, führte zur Gründung des Gesellenvereins als einer Gemeinschaft Gleichgesinnter mit dem grundlegenden Ziel, Menschen anzuregen und zu befähigen, ihr Leben als tüchtige Christen zu gestalten und dadurch zur Veränderung der Welt beizutragen.

Erstes entscheidendes Stichwort im Blick auf den Pädagogen Adolph Kolping ist also die Gemeinschaftsbildung. Dabei geht es Kolping nicht um ein zufälliges oder spontanes Miteinander von einzelnen, sondern um eine auf Dauer angelegte Vereinigung von Menschen, die sich gemeinsam zum Erreichen eines bestimmten Zieles auf einen bestimmten Weg machen. Wichtig ist hier natürlich, dass diese gemeinsame Zielsetzung und die entscheidenden Stationen eines gemeinschaftlichen Weges klar vorgegeben bzw. markiert sind - Hinweis auf die zentrale Bedeutung eines klar definierten Auftrages und Selbstverständnisses einer katholisch-sozialen Organisation, die sich als Teil von Kirche versteht.

Wirksame Gemeinschaftsbildung erfordert in der Sicht Kolpings ein bestimmtes Maß an Identität der Betroffenen oder Beteiligten. Deutlich formuliert er: Nur das Gleichartige taugt zusammen. Es ist also nicht damit getan, etwa Menschen zu sammeln, vielmehr müssen klare Vorstellungen gegeben sein, wer denn eingeladen oder aufgefordert ist zu entsprechendem Mittun. Für Kolping kam in seiner Zeit nur der Zusammenschluss von Menschen infrage, die sich in einer relativ übereinstimmenden Lebenssituation - in beruflicher, familiärer und gesellschaftlicher Hinsicht - befanden; darüber hinaus war für ihn ein Mindestmaß an Bereitschaft und Fähigkeit wichtig, ja unverzichtbar, sich gemeinsam auf einen Weg zu machen, der in seinen Grundzügen nicht in das Belieben des einzelnen gestellt war. Kolping war - anders formuliert - durchaus bereit, den einzelnen dort abzuholen, wo er stand, aber er erwartete und forderte dann das entsprechende Mitgehen, er war also nicht bereit, einfach dort stehen zu bleiben, wo er den anderen traf.

Für Kolping war die Familie das Grundmuster menschlicher Gesellungsformen. Der Gesellenverein, das Gemeinschaftsleben sollte entsprechend, soweit als überhaupt möglich, diesem ‚Modell’ ähneln, hier sollte familienhafte Gemeinschaft entstehen, sichtbar und erlebbar werden.

Dazu gehört zunächst die Art und Weise des Umgangs miteinander. Dazu gehört auch der sogenannte ganzheitliche Ansatz, der nichts anderes meint als das Bemühen, alle Dimensionen des Lebens - gerade auch in ihren vielfältigen Zusammenhängen und Wechselwirkungen - in den Blick zu nehmen, der also gemeinschaftliches Leben und Wirken nicht reduziert auf bestimmte Lebenssituationen oder Themenbereiche. Dazu gehört schließlich auch die Vielfalt im praktischen Tun, wo sich Gemeinschaftsleben in vielfältigster Weise vollziehen kann, in gemeinsamer Arbeit, im Gottesdienst, in froher Geselligkeit etc.

Die Mitglieder des Gesellenvereins waren nie Objekt eines auch noch so weit verstandenen pädagogi-schen Handelns. Kolping konnte es nicht darum gehen, jemanden zum tüchtigen Christen zu ‚machen’; Ziel und Auftrag des Werkes war es vielmehr, dem einzelnen Hilfe und Anregung zu geben, ein tüchtiger Christ zu werden. Insoweit kann als drittes entscheidendes Stichwort neben Gemeinschaftsbildung und Familienhaftigkeit der Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe genannt werden, der Möglichkeiten und Gren-zen gemeinschaftlichen Lebens und Wirkens sehr deutlich markiert.

Diesem Ansatz entspricht auch die Ernstnahme tatsächlicher Interessen und Bedürfnisse des einzelnen in seiner konkreten Lebenssituation. Nur dort, wo die subjektive Betroffenheit zum Ansatzpunkt gewählt wird, wird es auf Dauer möglich sein, jemanden zu bewegen, sich - gemeinsam mit anderen - auf einen Weg zu machen. Eben dieser Weg ist zwar abgesteckt, er ist auch mit Wegweisern versehen und er hat ein klares Ziel, aber jeder einzelne muss ihn doch selbst gehen. Ein solches Bild macht zugleich deutlich, dass eben kein Widerspruch besteht zwischen der Ernstnahme subjektiver Interessen und Bedürfnisse einerseits und der Beachtung objektiver Gegebenheiten und Notwendigkeiten andererseits: der Weg ist vorgezeichnet, wer sich freiwillig auf diesen Weg begibt, und dies auch noch gemeinsam mit anderen, muss auf dem Wege bleiben und unterwegs auch bestimmte Spielregeln beachten.

Der letzte Gedanke weist auf ein viertes zentrales Element hin, das bei der Frage nach dem Pädagogen Adolph Kolping zu nennen wäre. Gemeint ist das Stichwort Organisation (Ordnung). Gemeinschaftliches Leben und Wirken auf der Basis klarer Zielsetzungen erfordert ein bestimmtes Maß an Ordnung, an verbindlichen Regeln. Dies betrifft sowohl die Gemeinschaft vor Ort als auch den Zusammenschluss vieler kleiner Gemeinschaften zu einer größeren Organisation. Für Kolping waren in diesem Zusammenhang vor allem drei Aspekte entscheidend. Das eine ist die immer wieder betonte Notwendigkeit, das im weitesten Sinne verstandene Instrumentarium des gemeinschaftlichen Lebens und Wirkens immer wieder den Gegebenheiten und Erfordernissen der Zeit anzupassen, ohne die Fundamente dabei aufzugeben. Das andere ist die Betonung notwendiger, klarer Aufgabenverteilungen, ausgehend von der Einsicht, dass nicht jeder alles kann und dass jeder am besten dort seinen Dienst in und für Gemeinschaft leisten kann, wo er seine spezifischen Fähigkeiten hat. Das dritte schließlich lässt sich mit dem Stichwort Partizipation be-schreiben: Soweit überhaupt möglich, sollten alle an den wesentlichen Prozessen der Meinungs- und Willensbildung beteiligt sein, sich einbringen können. Verantwortliches Mitdenken, Mitsprechen und Mithandeln war für den tüchtigen Christen im Sinne Kolpings nicht nur eine nach außen auf Gesellschaft hin gerichtete Forderung, sondern musste natürlich auch für die ganze Gemeinschaft als Leitmaxime die-nen.

 

Die Frage nach dem Pädagogen Adolph Kolping kann und muss sicherlich von Zeit zu Zeit immer wieder gestellt und beantwortet werden, denn natürlich prägen die Zeitverhältnisse und damit auch die gesellschaftlichen Realitäten sowohl den Zugang zu dieser Frage als auch ihre Beantwortung. Die hier skizzierten Grundelemente können aber, so scheint es, ein hohes Maß an genereller Relevanz beanspruchen, ebenso eine relativ zeitlose Aktualität. Die Verbandsgeschichte mit ihrem vielfältigen Auf und Ab belegt jedenfalls die Tatsache, dass unsere Gemeinschaft immer gut beraten war, die Grundelemente einer Kolpingschen Pädagogik im jeweiligen Kontext angemessen zu beherzigen.

 

Die alles entscheidende Frage ist nun, wie wir im Kolpingwerk heute mit dieser Situation, diesen Aufgaben und Herausforderungen im Sinne Adolph Kolpings umgehen.

Die familienhafte Glaubens-, Bildungs- und Aktionsgemeinschaft des Kolpingwerkes – vor allem mit dem praktischen Tun in der Kolpingsfamilie – kann das Genannte durchaus liefern bzw. leisten:

- Kolpingsfamilie kann echte Gemeinschaft bieten,

- Kolpingsfamilie kann klare Orientierung vermitteln,

- Kolpingsfamilie kann praktische Lebenshilfe geben,

- Kolpingsfamilie kann zum Engagement hinführen.

 

Tatsächlich ist dies ja auch vielfach gelebte Praxis, und dies unter den vielfältigsten Rahmenbedingungen der Arbeit im Internationalen Kolpingwerk. Hier erleben wir eine außerordentliche Vielfalt bei einer zugleich im Kern gemeinsamen Aufgabenstellung resp. Zielsetzung. Sicherlich gelingt das nicht überall in hinreichendem Masse, nicht in dem Sinne, dass Kolping-Arbeit an allen Orten und zu jeder Stunde unter einem solchen Ansatz stehen würde bzw. so gesehen resp. erlebt werden könnte. Aber die Chance – zugleich als Aufgabe begriffen – ist da und kann genutzt werden!

 

5. Schlussbemerkung

In einer am 5.9.1847 gehaltenen Predigt über den katholischen Jünglingsverein, der ältesten überlieferten Aussage über den Gesellenverein überhaupt, hat Adolph Kolping den Kern der Vereinsidee im Sinne der Begründung einer zielgerichteten Vereinigung von Menschen eindringlich und plastisch zugleich dargelegt. Dieser Gedanke soll hier abschließend und zugleich zusammenfassen eingeblendet werden:

Wenn ein einzelner Mensch durch ein reißendes Wasser waten will, wird er's nicht vermögen; greifen sich aber mehrere unter die Arme und bilden eine geschlossene Reihe, werden zusammen sie das tobende Element überwinden. Vereinigung macht stark, eine praktische Wahrheit, so alt wie die Welt, welche aber keine Einrichtung in der Welt so großartig und doch so einfach zur Anschauung bringt wie die katholische Kirche. Eine Vereinigung von jungen Männern also, denen es wahrhaft ernst wäre, ihre kostbare Jugendzeit vernünftig zu benutzen, sich von dem heillosen Treiben vieler anderen fernzuhalten, das empfangene Gute hier oder anderwärts zu bewahren und zu pflegen, denen es ernst wäre, gute Christen und tüchtige Bürger zu werden, ein Verein, geschlossen und gegründet, mitsammen rüstig und mutig, Gott und Tugend zum Wahlspruch, durch den Strom des Lebens zu wandern, Nützliches zu lernen, mit Anstand sich zu freuen, Gott zu dienen und in der Welt ehrenhaft und tüchtig dazustehen. Das wäre für diejenigen, deren guter Wille noch einer gesunden Tat fähig wäre, ein passendes, glückliches - wenn nicht das einzige - Mittel wider die vielfachen Klagen, die sonst über die Jugend ausgestoßen werden.

 

Michael Hanke

Köln, im Mai 2014