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Curriculum Vitae

Besonders aufschlussreich ist der Lebenslauf, bei dem sein Denken als junger Mensch und kurz vor einer entscheidenden Lebenswende deutlich zum Ausdruck kommt.

LeistenAK

Wenn es für den Schüler eines Gymnasiums, der im Begriffe steht, die Anstalt, die ihn sozusagen großgezogen hat, zu verlassen, nicht schwer werden dürfte, einen kurzen Abriß seines Lebens in die Hände seiner Lehrer niederzulegen, so finde ich doch eine Schwierigkeit in dem Umstande, daß ich erst in einem Alter in die Anstalt aufgenommen worden bin, worin andere dieselbe zu verlassen pflegen. Ein ganzer Lebensabschnitt liegt außer diesem Zeitpunkt, und dieser ist zu wichtig in seinen Folgen, zu reich an Erfahrungen gewesen, als daß er nicht auf die jüngste Periode meines Lebens einen merklichen Einfluß ausgeübt hätte, als daß ich ihn bei der Zusammenstellung meiner Begegnisse im Leben übergehen sollte. Liegt doch darin der Schlüssel zu meinem ganzen Benehmen, zu meiner Haltung, zu meiner künftigen Wirksamkeit. Denn, in der Tat, noch bevor ich die Schwelle unseres Gymnasiums überschritten hatte, hatte ich schon ein eigenes Leben in seinen Tiefen durchlebt, hatte schon mit dem Leichtsinn eines Knaben Kartenhäuser gebaut, mit dem Feuer eines Jünglings große Pläne entworfen, Hoffnungen gehegt, sie verschwinden sehen; hatte schon mit dem Ernst eines Mannes, möcht' ich sagen, auf die zusammengestürzten Pläne geschaut und mich an dem Spiel des Lebens satt gesehen. Was nun aber den Übergangspunkt aus jener in vielfacher Beziehung für mich wichtigen Lebenszeit bildet, was mich zu dem Entschlusse führte, von neuem gleichsam die Knabenjahre zu beginnen, das muß ich in seinen Hauptmomenten in meiner Erzählung mit berühren; es würde sonst kein Zusammenhang in das Ganze kommen; man würde zwar die Ergebnisse wissen, aber die Beweggründe deshalb doch nicht entdeckt haben. Wenn meine Erzählung auch die gewöhnliche Grenze eines Aufsatzes der Art überschreiten sollte, so wolle man mir das verzeihen; gerade alltäglich sind ja auch meine Begegnisse nicht, und wenn ich meinen verehrten Lehrern die notwendigsten Aufschlüsse über mein Bestreben, mein Handeln und Wollen darlege, so werden sie darin gewiß nur den Beweis finden, wieviel Zutrauen der scheidende Schüler zu ihnen hegt.

Im Jahre 1813, den 8. Dezember, wurde ich zu Kerpen, einem Marktflecken des Kreises Bergheim, geboren. Meine Eltern waren stille, ehrbare Leute, deren ganzes Vermögen in einer zahlreichen Familie bestand, deren Unterhalt ihnen vollauf zu tun gab. Die Schafherde meines Vaters, ein Häuschen mit Garten und einige Stückchen Land bildet noch heute das treu bewahrte Erbe unserer Ahnen. Worauf aber doch meine Eltern mit emsiger Sorge acht hatten, war die Erziehung ihrer Kinder; den Unterricht durften diese um keinen Preis verabsäumen. Dies kam mir als dem Jüngsten noch besonders gut zustatten, da die übrigen Geschwister bereits den Eltern in den häuslichen Verrichtungen helfen konnten, ich aber nur auf die Schule angewiesen war. Aber auch schon frühe regte sich eine große Lernbegierde in mir, die mein Lehrer, ein in jeder Hinsicht ausgezeichneter Mann, wohl zu wecken und anzufeuern verstand. Die glücklichsten Stunden meines Lebens habe ich unter seinen Augen zugebracht, wenn er mit der Liebe eines Vaters seinen aufhorchenden Schülern die Lebensgeschichten großer Männer erzählte oder ihnen Kenntnisse mitteilte, die, wenn sie auch außer dem Kreise einer gewöhnlichen Landschule lagen, doch dem wißbegierigen Knaben so willkommen waren. Aber gerade dadurch wurde jener Trieb nach einer höheren Ausbildung in meine Seele gepflanzt, den ich später nicht mehr unterdrücken konnte. Mit dem vollendeten zwölften Jahre aber begannen meine Eltern zu ratschlagen, was nun künftig meine Bestimmung sein sollte, denn die letzte Klasse meiner Schule war durchgemacht und für mich also da nichts mehr zu tun. Wohl hätte ich gern mein Studium fortgesetzt, aber dazu konnten sich meine Eltern nicht entschließen, denn woher sollten sie die Mittel nehmen, einen solchen Plan auszuführen? Zudem war niemand, der ein solches Unternehmen in seinen Schutz genommen hätte, und ohne fremde Mithilfe war es schlechterdings nicht möglich. Das Rätlichste war, ein Handwerk zu erlernen, weil dann für mein künftiges Auskommen am besten gesorgt schien. Selbst bei der Wahl eines solchen mußte ich auf die Verhältnisse meiner Eltern Bedacht nehmen, da ich nicht verlangen konnte, daß sie für mich größeren Aufwand machen sollten als für meine übrigen Geschwister. Ich entschloß mich also, wenn auch mit schwerem Herzen, das Schuhmacherhandwerk zu erlernen. Bald war ein Meister in meiner Heimat gefunden, und ich trat, noch nicht volle 13 Jahre alt, meine Lehre an. Aber während derselben zeigte sich, wonach der Geist am meisten verlangte, denn die einzigen Verweise meines Lehrmeisters erhielt ich nur wegen meiner Leselust, die ich in jedem freien Augenblicke zu befriedigen suchte. Dabei hegte ich doch immer eine große Meinung von meinem Stande, und mein ernstliches Bestreben ging dahin, mich in diesem von niemandem übertreffen zu lassen. Die Lehre war indes überstanden, ich von manchen Banden frei, die meine geheimsten Wünsche gefesselt gehalten hatten, nun konnte ich, hatte die Feierstunde geschlagen, nach Herzenslust lesen und den Kreis meiner Kenntnisse erweitern.

Unglücklicherweise konnte ich nur höchst mittelmäßige, oft sogar nur schlechte Volksbücher auftreiben; aber wie sich der Körper an schlechte und grobe Speise gewöhnt, wird ihm keine andere geboten, so mußte sich auch der Geist nur mit dem begnügen, was ihm zunächst lag. Durch dieses zweifache Bestreben nach geistiger und körperlicher Ausbildung, wobei eines natürlich die Oberhand gewinnen mußte, legte ich den Grund zu einer mir anfangs selbst unerklärlichen Ruhelosigkeit, deren Grund ich aber allmählich einzusehen begann. Mein Wissen genügte mir nicht, meine Fertigkeiten in meinem Fache schienen mir nach der Vorstellung, die ich davon hatte, nicht hinzureichen, des Dorflebens wurde ich überdrüssig, weil ich mich in jeder Hinsicht gehindert glaubte: also entschloß ich mich, die Städte in der Umgegend zu besuchen, um auf größeren Werkstätten vollkommenere Arbeit, gebildetere Menschen zu suchen, um wenigstens den Studien nahe zu sein, die ich im Grunde des Herzens über alles liebte. Acht Jahre lang bin ich von einer Stadt zur anderen gewandert, habe in mancher Werkstätte gearbeitet, viele Menschen kennengelernt, das Leben von guten und bösen Seiten angeschaut, und am Ende, als ich über alles mir genaue Kunde verschafft hatte, fand ich mich selbst tief in ein Verhältnis verwickelt, das mir nur zu deutlich zeigte, wie unglücklich ich geworden war. Denn, wenn ich auch in meinem Fache die nötigen Fertigkeiten erlangt hatte, um mich in den ersten Werkstätten um Arbeit bewerben zu können, wenn ich auch wirklich bis zur höchsten Stufe in Jahresfrist zu gelangen hoffte, so hatte ich auch mit diesem Umstande die Überzeugung gewonnen, daß ich mich entweder auf dieser Höhe nicht halten durfte, daß ich wieder tief hinabsteigen mußte, wollte ich Ruhe in meinem Inneren begründen, oder daß ich mich lebenslänglich an Ketten schmieden mußte, vor denen das Herz sich empörte. Gebildete Menschen hatte ich gesucht, rohe Gemüter, meist schon in ihrem tiefsten Innern verdorben, die sich der größten Entsittlichung nicht schämten, hatte ich gefunden. Bildung war mein Augenmerk, als ich wohlgemut durch die Tore einer benachbarten Stadt hindurchschritt, und anstatt in meiner Umgebung auf Bildung zu treffen, fand ich nur krasse Unwissenheit, zwar eine äußere Abgeschliffenheit, aber dafür die geistige Erbärmlichkeit auch über die Maßen groß.

Elend war ich, wenn ich mich an meine Umgebung anschloß, mit ihr lebte und mit gleichem Leichtsinn des Schöpfers kostbarste Gaben verschleuderte,

unglücklich, wenn ich es versuchte, mich von ihnen loszumachen, um meinen eigenen Weg zu gehen. Das letztere war fast nicht möglich, da das genannte Geschäft durchaus ein enges Zusammenleben bedingt. Und wer würde sich auch sonst an den Schuster anschließen, wenn er auf eine höhere Bildung Anspruch machen kann? Das Bewußtsein meiner unglücklichen Lage wurde noch schmerzlicher, als ich durch die Leserei, der ich mich nie entwöhnen konnte, ganz andere Begriffe über den Menschen, seine Bestimmung, über die Würde einer höheren Bildung erlangte. Ich fand mich vereinsamt mitten unter meinen Standesgenossen, an eine Lebensweise gebunden, die mir allmählich Grauen einflößte, und doch keinen Ausweg vor mir, aus diesem Labyrinthe zu entkommen. Ich war nahe 22 Jahre alt, hatte die Grundlage zu meinem äußeren Fortkommen gelegt, schon freuten sich die Eltern, mich bald versorgt zu sehen, und ich war rat- und hilflos. Unter dieser Volkshefe konnte ich nicht sitzen bleiben, nicht mein ganzes Leben unter den obwaltenden Umständen verkümmern lassen; und aus dem Verhältnisse heraustreten, von neuem eine andere, mir mehr zusagende Lebensweise beginnen, das ebenso gewagt als gefährlich war.

Was beginnen? Ohne Mittel, ohne Hilfe, nur mir selbst überlassen? Die besten Jugendjahre hatte ich an die Erstrebung eines Zieles gesetzt, das um so weiter von mir rückte, je näher ich ihm zu kommen glaubte. Mein Stand und die Bildung, zu der ich mich, der eigenen Führung überlassen, hinausschwingen wollte, waren unvereinbar, das war mir klar geworden. Auf eines mußte ich verzichten, wenn ich Zufriedenheit und Ruhe finden wollte. Ein Handwerker, der zu viele Kenntnisse besitzt, die nicht zu seinem Gewerbe gehören, bringt's in demselben nie oder doch höchst selten weit. Die Erfahrung davon hatte ich oft gemacht und die bösen Folgen mehr wie einmal bedauert. In dieser Hinsicht war mein Schicksal klar. Wenn ich nun aber mein Gewerbe aufgab und mit ihm alle Vorteile meines Fortkommens, Kenntnisse, an denen ich zehn Jahre lang mit Mühe gesammelt hatte, was sollte ich dann beginnen? Wenn ich mein Gewerbe niederlegte, mußte ich doch in Rücksicht meiner Bildung gewinnen, sonst war dieses ja nutzlos. Daß ich noch studieren würde, das Gebäude meiner Bildung von Grund aus neu aufführen müsse, fiel mir damals noch nicht ein, und ich würde damals meine spätere Stellung wohl auch belächelt haben.

Doch war dies wohl das geringste Hindernis, ein anderes, weit größeres, drückte meinen Geist nieder und verbitterte mir das Leben noch mehr. Was sollte mein armer, alter Vater sagen - die Mutter war vor einigen Jahren gestorben -, wenn ich nun mein Gewerbe aufgab und er an mir auf lange Zeit eine Stütze verlor, deren er so sehr bedurfte? Noch keines von meinen Geschwistern war versorgt, und schon bedurfte es gesamter Kräfte, das sinkende Hauswesen aufrechtzuerhalten. Eine höhere Stimme als meine Wünsche gebot mir Einhalt in meinen Wünschen. Ich suchte mich zu beschwichtigen, aber die Freudigkeit des Lebens war zerstört, und nur schlecht vermöchte ich mich in dem alten Geleise zu halten. Es bedurfte noch zur Vollendung meiner unglücklichen Lage des Gedankens, daß mein Alter mir nicht mehr gestattete, und in der Folge mir gar nicht gestatten würde, meinen Stand ändern zu können. Also mein Leben lang diese Kette herumzuschleppen, die mich schon so herb drückte, mein Leben lang in dem Schmutze sitzen zu bleiben, der mich schon so lange angeekelt hatte, der Gedanke wurde mir unerträglich. Kölns erste Werkstatt hatte ich erreicht, saß in einem Kreise, nach dem sich so viele vergeblich bewarben; aber noch erbebt mein Inneres, wenn ich an die schrecklichen Tage gedenke, die ich dort mitten unter der Liderlichkeit und Versunkenheit von Deutschlands Handwerks-Gesellen zugebracht habe. Man wird vielleicht die Schilderung von meinen Standesgenossen für allzu grell halten, aber ich könnte, wenn es hier an der Stelle wäre, Belege dazu liefern, welche die möglichen Begriffe davon übersteigen. Schätze sich jeder glücklich, der nie so etwas sah und hörte, der nie mit solchen Menschen in Berührung kommt! Mein Unglück, und das war meine Lage doch sicher, war auf dem Höhepunkt, bald sollte es besser werden. Hatte ich meine Ruhe und Zufriedenheit eingebüßt, war mein Glaube an die Menschheit wankend geworden, so sollte ich reichlich entschädigt werden, sollte wieder Menschen finden, nach denen ich mich lange vergeblich umgesehen hatte. Die Vorsehung führt die Wege des Menschen oft wunderbar, auch ich habe das deutlich erfahren. Angestrengte Arbeiten, Nachtwachen und mein ruheloser Gemütszustand hatte im Frühjahr 1836 mir eine Krankheit zugezogen, zu deren Heilung ich nach dem Rate des Arztes auf einige Zeit meine Arbeit beiseite legen und die frische Landluft genießen sollte. Ich ging nach Hause, besorgt, was die Meinen über meine Lage sagen möchten; denn ich hatte mich entschlossen, ihnen alles offen zu erklären. Man bemerkte meine trübe Stimmung, und ich machte auch keinen Hehl daraus. Anstatt aber dort auf Widerstand zu treffen, fand ich nur die aufrichtigste Teilnahme, und selbst mein alter Vater meinte, wenn ich mit meinem Stande nicht zufrieden wäre, so sollte ich nur nach meinem Gutdünken mich nach einem andern umsehen, seine Zustimmung hätte ich, da er überzeugt sei, daß mich Gott zum Besten leiten würde.

Das war genug, um gleich einen Plan zur Reife zu bringen, mit dem ich mich lange herumgetragen hatte. Schon in Köln war mir ein Schriftchen von einem Pfarrer aus unserer Nachbarschaft in die Hände geraten, dessen Geist mir einen teilnehmenden, verständigen Mann anzudeuten schien. Auch vermehrte die Schilderung seines Charakters, die ich zu Hause leicht erhalten konnte, meine Achtung und mein Zutrauen zu ihm, und an ihn entschloß ich mich zu schreiben, ihm meine Lage zu schildern und mit wenigstens einen guten Rat zu erbitten. Auch verhehlte ich ihm meinen Wunsch nicht, Theologie zu studieren, wenn anders diese Studien noch durchzuführen möglich sei. An Hindernisse, Schwierigkeiten, tausend andere Sachen, die mit meiner großen Bitte zusammenhingen, dachte ich weniger, als daß man an der Wahrhaftigkeit meiner Worte zweifeln würde oder doch mit Mißtrauen den Handwerksgesellen betrachten, der mit solch einem wunderlichen Antrage heranrückte. Doch mußte jedenfalls dem edlen Pfarrer mein Schreiben sonderbar vorkommen, und er wünschte mich zu sprechen. Mit welchen Gefühlen ich zu ihm eilte, zu ihm, von dem ich Erlösung aus meinen Banden erwartete, der mir die Bahn eines neuen Lebens vorzeichnen sollte, kann ich unmöglich schildern. Bald stand ich ihm gegenüber; seine Freundlichkeit, seine Güte machte mir Mut, ich gestand ihm meine hilflose Lage und er hatte nur Worte der Aufmunterung, des Trostes. Zuerst zeigte er mir die Wichtigkeit und Schwierigkeit meines Unternehmens; aber als er mich bereit fand, auch das Härteste über mich zu nehmen, wenn es nur zum Ziele führe, da bot er mir die Hand zur Hilfe, zur

tatkräftigen Freundschaft an und machte mir vollends Mut, jede Fessel zu zerbrechen, die mich an mein Gewerbe band. Mit welcher Begeisterung ich nun meine Studien beginnen würde, hatte der sachkundige Mann wohl eingesehen, auch daß mir das sehr schädlich seine könne; er gab mir deshalb den Rat, meiner Verpflichtung in Köln bis auf den letzten Tag nachzukommen, während dieser Zeit aber in den Freistunden zu einem von ihm bestimmten Lehrer zu gehen, um dort die Anfangsgründe der lateinischen Sprache zu erlernen. Man kann sich denken, mit welcher Freude ich schied und wie ich mich bestrebte, recht viel in kurzer Zeit zu lernen. Der Menschenfreund, den ich zuerst gefunden, sollte sich an mir nicht getäuscht haben. Noch fast zwei Monate blieb ich in der Werkstätte, setzte meine Arbeit fort und suchte in den Abendstunden lateinische Deklinationen und Konjugationen einzuüben. Im Anfange hielt es außerordentlich schwer, die notwendigen Begriffe einzuprägen; mein Lehrer erklärte mir nichts, und meist war ich mir selbst überlassen. Aber der gute Wille und die Ausdauer siegte doch endlich, und Formen begannen mir geläufiger zu werden. Darauf begab ich mich um Ostern nach Hause, wo ich dann in den Nachmittagsstunden den nur eine Stunde entfernten Pfarrer besuchte.

Wenn etwas bei dem Gange des Unterrichts versehen ward, so war es meinerseits die allzu große Eile, mit der ich, die Anfangsgründe zu wenig beachtend, nach der Hauptsache strebte. Die Folgen davon habe ich noch lange nachher empfunden. Den Sommer über wurden meine Studien mit rastlosem Eifer fortgesetzt, ich arbeitete des Morgens, und die Nachmittage waren den Studien gewidmet. Ich hegte die schönsten Hoffnungen. Da störte ein Befehl der geistlichen Oberbehörde, die den geistlichen Freund nach einer entfernteren Pfarrei versetzte, meine Pläne wieder. Dadurch wurden meine Studien zerrissen, und ich war wieder in eine bedrängte Lage geraten. Mit dem Freunde ziehen konnte ich nicht, hatte er doch selbst kaum sein Auskommen, und wer würde nun meine Studien leiten? Doch mein Freund blieb in seiner gütigen Fürsorge nicht zurück; er empfahl mich einem jungen Geistlichen meiner Pfarre, der auch mit der größten Bereitwilligkeit meinen Unterricht übernahm und mir ihn unentgeltlich, gern und mit der redlichsten Gewissenhaftigkeit erteilte. Bei diesem Herrn, Theodor Wollersheim, wurden meine Studien zuerst nach dem Plane des Gymnasiums eingerichtet. Mit unermüdlicher Geduld suchte er mir außer der Form auch das Wesen der Sache beizubringen, und nur zu leid tat es mir, wenn ich's in dem einen oder andern versah. Schwer mußten mir die Studien werden, das lag in der Natur der Sache, ich hatte schon zuviel in der Welt um mich geschaut, war dadurch zum Nachdenken angeregt worden, und der Verstand konnte sich nur mit großer Mühe mit diesem Formenwesen, an das er nie gewohnt gewesen, befassen.

Doch war ich bis zum Herbste des Jahres 1837 so weit vorgerückt, daß ich in die Tertia unseres Gymnasiums konnte aufgenommen werden. Mangelte auch noch manches meinem Wissen, so habe ich es der Güte meiner Lehrer zu verdanken gehabt, daß ich mit den besten Zeugnissen diese Klasse beim Jahresabschlusse verlassen konnte. In Köln war ich endlich wieder, das ich mit so hoher Freude verlassen hatte. Hier hatte ich jahrelang meiner Erlösung entgegengehofft, hatte hier so manche trübe, verbitterte Stunde durchlebt, hier fand ich mich endlich wieder, und zwar in einem Verhältnisse, das ich früher oft mit sinnendem Geiste betrachtet, in das ich mich oft gewünscht hatte, aber einen vergeblichen Wunsch, wie so viele andere, zu hegen glaubte. Ich war zwar wieder zum Knaben geworden, mußte mich Gesetzen unterwerfen, die gewiß auf mich nicht berechnet waren, aber warum sollte ich mich nicht diesen fügen, warum nicht von der untersten Stufe an aufsteigen zu einem Ziele, das glänzend, fest und bestimmt mir vorschwebte? Dieses Verhältnis war auch das Geringste, was mich kümmerte, vielmehr lagen mir andere Hindernisse im Wege, deren Beseitigung mir mehr Mühe, Arbeit, Sorge und Kummer gemacht hat, die noch meine freie Tätigkeit hemmen und den frischen Sinn nicht aufkommen lassen, der zu den Studien so unumgänglich notwendig ist. Diese Hindernisse machte die Sorge um meinen Unterhalt, denn jetzt galt es nicht mehr zu arbeiten, sondern zu studieren und zu leben, die beiden letzteren Teile waren übriggeblieben, und die Haupterwerbsquelle mußte aufgegeben werden. Obwohl meine Freunde mir anfangs nach Kräften fortzuhelfen versprachen, dies auch redlich taten, bis ich mit den eigenen Kräften auslangen würde, so fühlte ich doch bald, daß dies Unbilliges sei, wenn ich mich bloß auf die Hilfe derer, die bis dahin mir so viel Liebe erwiesen hatten, verlassen sollte. Zudem hatten diese kaum selbst ihr Auskommen. Von Hause aus aber durfte und konnte ich aus leicht erklärbaren Gründen nicht erwarten, würde auch nichts genommen haben, und war folglich auf mich selbst und die Güte eines Verwaltungsrates der Stiftungsfonds hingewiesen. Von diesem erhielt ich im Jahre 1838 eine Stiftung von 52 Talern, und da die Güte meiner Lehrer mir auch das freie Schulgeld zukommen ließ, so war die Erschwingung  der übrigen Kosten doch noch immer möglich, wenn ich auch darüber manches andere, vielleicht wesentlich Notwendige, verlor. Als ich aber um Ostern des Jahres 1839 an den Blattern schwer erkrankte, dadurch längere Zeit unfähig war, meine Studien fortzusetzen, darauf in die Obersekunda versetzt wurde, meine sonstigen Hilfsquellen rein versiegten und, um das Maß der Sorgen vollzumachen, durch einen Beschluß des Ober-Schulkollegiums die Freischule mir genommen wurde, da galt es, den ganzen Mut zusammenzunehmen, um im Geleise zu bleiben. Wie gütig war die Gottheit, daß sie mir die Masse von Schwierigkeiten, die sich mir auf meiner heiß ersehnten, aber mühsamen Bahn entgegenstellten, nicht auf einmal zeigte, daß sie die Binde allmählich von meinen Augen löste, während ich schon die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte! Aber wenn nun auch nicht alles nach Wunsch ging, wenn manches halb vollendet, manches ganz unberührt liegenblieb, wenn der ermüdete, abgeplagte Körper dem immerfort treibenden Geiste den Dienst versagte, wenn der Geist selbst endlich sich in allen Formen nicht mehr zurechtfinden konnte, so wird man dafür noch immer eine Entschuldigung finden, jedenfalls nicht den Stab darüber brechen. Mag sich der glücklich preisen, den die Sorgen des Lebens in seinem Wirkungskreise nicht hemmen! Mir ist bis jetzt ein solches Glück nicht zuteil geworden, weiß aber auch aus Erfahrung. von welchen Folgen eine solche Lage ist. Mehr wie einmal bin ich im Leben in gedrückten Verhältnissen gewesen, habe mehr wie einmal gefühlt, was der verliert, der zu seiner Ausbildung, die ihm am Herzen liegt, nicht die nötigen Mittel herbeischaffen kann; aber noch nie ist dieses mir so schmerzlich auf die Seele gefallen als in den letzten Jahren, da, als ich den Wert der zu erwerbenden Kenntnisse erst ganz begriff und um des täglichen Unterhaltes willen meine Zeit, meine Kräfte und meine Gesundheit opfern mußte.

Im Jahre 1838 befiel mich ein gefährlicher Bluthusten, der sich im folgenden Jahre wiederholte und selbst jetzt wiederzukehren droht. Vorsichtig muß ich noch mit mir selbst umgehen, und übermäßige Arbeit kann und darf ich jetzt nicht über mich nehmen. Nun bin ich jetzt durch den Drang der Umstände genötigt worden, mit der Bitte zur Aufnahme zum Abiturienten-Examen bei meinen verehrten Lehrern einzukommen, und ihre Güte ist meinen Wünschen und Gründen zuvorgekommen.

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