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2. Das Gymnasium

 

Es muss ein eigentümlicher Anblick gewesen sein, den 24-jährigen Menschen zwischen Knaben von 14 Jahren auf der Schulbank sitzen zu sehen. Die jungen Bürschlein finden sich leicht veranlasst, über einen alten Mitschüler zu spötteln, und für den letztern ist´s eine harte Probe der Demut und der Ausdauer. Auch für Kolping war die Sache nicht leicht, wie er beim Abgang von der Lehranstalt in dem weiter unten mitzuteilenden Schreiben an seine Lehrer offen bekennt. Der Spott wagte sich jedoch nicht leicht an Kolping, dessen ganzes Wesen Berufsreife und heiligen Ernst bewies, heran. Seine Lehrer bemerkten gleich von Anfang an seinen großen Wellen und seinen Eifer, sich Gesetzen zu unterstellen, die gewiss auf ihn nicht berechnet waren. Sie achteten ihn und halfen ihm freundlich nach.

Ein Sohn begüterter Eltern hat keine Ahnung von den Sorgen und Entbehrungen, mit denen ein armer Student sich herumschlagen muss. Diese Sorgen aber drückten unseren Kolping in den Jahren, in welchen doch der Geist mehr wie sonst frei sein müsste, auf das bitterste. Es hatten sich zwar einige Wohltäter für ihn gefunden; durch sein Zartgefühl erlaubte ihm nicht, ihnen dauernd lästig zu fallen; von Hause durfte er nichts erwarten und würde auch nichts angenommen haben. Der Verwaltungsrat der Studienstiftung wandte ihm im Jahre 1838 die Summe von 52 Talern zu, und seine Lehrer erlangten für ihn Befreiung vom Schulgeld. Das aber reichte sicherlich nicht aus, um ihn für seine leiblichen Bedürfnisse über Wasser zu halten. Mehrmals hat er später im Kreise seiner Freunde von dieser Not erzählt. Kaum war er in seinen Studien soweit gediehen, dass er Schülern der unteren Klasse Nachhilfe in Privatstunden geben konnte – eine harte Arbeit für ein paar Groschen –, so suchte er sich diesen kleinen Erwerb zu verschaffen. Er musste, während seine mit Schüler sich im Freien ergehen und erholen konnten, schwer arbeiten, um zunächst das saure Geld für das Notwendige, das er brauchte, zu verdienen, dann seine Aufgaben für die Klasse, vielleicht in den Nachtstunden, anzufertigen und am folgenden Morgen, wieder um geringen Lohn, wie er später einmal den Mitglieder des Gesellenvereins erzählte, säumige Schüler aus den Betten aufzuwecken. Die durch dieses geplagte Leben übermäßig angestrengte Natur machte, wie es kaum anders möglich war, sehr bald ihre Rechte geltend. Ein heftiger Bluthusten, der sich in den Jahren 1838 und 1839 einstellte, schwächte ihn bedenklich. Die Freistelle wurde ihm bereits im Jahre 1839 wieder entzogen, wodurch sich seine Nahrungssorge begreiflicherweise mehrte. Doch Gott verließ ihn nicht. So oft eine Unterstützungsquelle zu versiegen drohte, tat sich alsbald, oft in wunderbarer Weise, eine andere auf. …

Er war noch nicht einen Monat Schüler des Gymnasiums, als er seine Ansichten über sein Leben und seine Aufgaben in einem Tagebuch niederlegte. Dasselbe, vielleicht auf den Rat einer seiner Freunde angelegt, enthält leider nur fünf Aufsätze; aber es sind viele herrliche Gedanken in den wenigen Blättern ausgesprochen. Wir wollen einiges davon den Lesern mitteilen; bei einem solchen Schüler dürfen wir ja getrost in die Schule gehen. Am 4. November 1837 schrieb er:

„Wohlan denn, mein Teurer! Auf deinen Rat will ich die Hand ans Werk liegen, will mit ruhigen, friedlichen, wohlwollendem Auge um mich schauen, hinblicken auf den Weg, den nicht zu wandeln habe, sowie die Schritte meiner Brüder beobachten, die neben mir hineilen nach verschiedenen Zielen, welche, obwohl eins gedacht, doch verschiedene Folgen haben. Zunächst will ich auf mich blicken, mit ruhigem, unparteiischem Herzen meine Neigungen und Empfindungen beurteilen und dem Ideal zuzuführen suchen, das meiner Seele im Jugendfeuer vorschwebte. Oh nein! Dieses Ideal ist kein Phantasiebild, keine Vorstellung, deren Verwirklichung nicht existiert, kein Bild, das, mit einem Heiligenschein umgeben, sich stolz unter seinen Mitbrüdern hervorheben soll, dass alles nicht. Erst will ich mich bestreben, Mensch zu sein, die hohe Bestimmung begreifen zu lernen, zu der ich geboren ward; die Pflichten des Menschen erkennen und erfüllen zu lernen, die ihn gerecht machen, unter seinen Brüdern zu leben und für sie zu wirken. Nachdem ich dann erkannt habe die Wege, die zur Vollendung führen, will ich mit festem Fuße sie betreten, will sie erkannte Wahrheit festhalten, mit freier, offener Stirne bekennen, was in meiner Seele vorgeht, der Wahrheit ein Zeuge, dem Mitmenschen ein Bruder sein. Zufriedenheit will ich in dem Gedanken suchen, alles getan zu haben, was meine Kräfte und mein Wirkungskreis verlangen; außer diesem gibt es ja auch keine wahre Zufriedenheit, keine Ruhe für mich. ...“

Ein anderer Aufsatz … klagt über die Enttäuschung, die er empfinde, je mehr er so genannten gebildeten Leuten begegne. Stets von der höchsten Meinung in Betreff der hohen Aufgabe der Männer der Wissenschaft erfüllt, habe er nach und nach gesehen, dass dieselben im größten sittlichen Elend schmachteten, weil sie Verirrungen sich hingeben, die man an der niederen Volksklasse zu sehr bedauere. „Es finden sich eine Menge Menschen vom höheren Schlage, die ihren Stand verkennen oder nicht zu begreifen scheinen und die im Grunde so genau mit jenen (der niedrigen Klasse) verwandt sind, dass nur die manierlichere Art, womit sie ihre Schwächen aufzutischen verstehen, sie von den selben unterscheidet. In gewisser Beziehung ist das nur umso schlimmer, denn es geht damit wie mit falschem Gelde: das von gröberem Gepräge fällt sofort als falsch in die Augen und jeder hütet sich davor; aber das feinere, mit Kunst ausgearbeitete, dem man’s nicht gleich ansieht, obgleich es falsch ist wie das andere, das kommt unter die Leute, und sie werden damit betrogen.“ Herrliche Gedanken entwickelt der junge Mensch, dessen stetes Streben es war, ein wahrhaft gebildeter, ein wirklicher Volkslehrer zu werden, der sich aber auch durch den Augenschein überzeugte, wie wenig Menschen es gibt, die den Namen von wahrhaft Gebildeten verdienen. „Ich habe von meiner frühen Jugend an eine sonderbare große Verehrung für (nach dem Kindesbegriff) gelehrte Leute gehabt. Wo ich jemanden sah, von dem man sagt, er sei gelehrt, da glaube ich einen Menschen von ganz außergewöhnlichen Eigenschaften und Vorzügen vor mir zu haben; ich kann es nicht leugnen, ich empfand bald ein unwillkürliches Gefühl in mir, jenem nachzuahmen. Wie ich größer wurde, hin und wieder einen Begriff über einige Gegenstände der Wissenschaft auffing, Geschichte las und sich in mir ein Gefühl hervor drängte, welches mich zum Studium trieb, so verringerte dies sicher die hohe Meinung nicht, die ich für Männer hegte, die ich mit einem Heiligenschein hätte umgeben mögen, wenn es in meiner Macht gestanden.“ ... „Volkslehrer sein“, so spricht er damals schon enthusiastisch, „das ist etwas Großes, sehr Großes; man wird sich‘s nicht zu groß vorstellen. Eine Stellung einnehmen, auf welche die Menge blickt, nach der sie ihr Tun modelt, ist etwas, was entweder zur höchsten Geistesanstrengung antreibt oder aber den Geist des Menschen zur tiefsten Stufe des Haschens nach Schmeichelei hinabdrückt.“ Aber wie geht es auf zu mit der Volkslehrerschaft! Er bringt hier die ernstesten Gedanken, schildert das Verderbliche verkehrter Lehren. „Man sieht da oft“, sagt er, „wenn man tiefer schaut, keinen Volkslehrer, sondern einen Volksverführer, den gefährlichsten, den es geben mag, der für seine Verräterei noch Ruhm und Ehre, Glück und Beifall erntet. Mit niederer Schmeichelei kriecht er buhlend um den Volksgötzen, ihm den letzten Atemzug zum Opfer bringend, wenn derselbe ihn nur dafür zu erheben verspricht.“ ...

Sein edler Charakter bewies sich während dieser Zeit auch in einer ihn ewig ehrenden Tat der Nächstenliebe.

Eines Tages hörte er, dass ein Schustergeselle, mit dem er von früher befreundet war, von den Blattern ergriffen sei. Der alte hin, ihn zu besuchen. Da er aber in das Dachzimmerchen trat, fand er großes Elend. Sein Freund war nicht nur von den Blattern entstellt, sondern auch in der größten Verlassenheit. Der Kranke war vom Lande und hatte in Köln keine Verwandte, die ihn aufnehmen konnten; die Hausleute, bei denen er in einer Dachstube Raum gefunden, fürchteten sich vor der ansteckenden Krankheit und zogen sich zurück. So lag denn der arme Gesell hilf- und trostlos da. Da erklärte Kolping, der Krankenwärter seines Freundes sein zu wollen. Mochte man das einen unbesonnenen Streich nennen, mochte man ihm vorstellen, es hemme dies seine Studien und erschwere die Erreichung seines von Gott so sichtbar gewollten Zieles – er gab die kurze Antwort: „Meine Hilfe ist hier nötig, also muss ich sie leisten; für das Weitere wird Gott sorgen!“ Und nun pflegte er den Kranken mit aller Liebe, bereitete ihn auf den Tod vor und stand ihm bei bis zum letzten Augenblicke.

Es kamen dann die Schulferien und er eilte aus seiner kleinen Dachstube nach Kerpen, um nach den Strapazen der Arbeit in frischer Landluft einige Wochen aufzuatmen. Aber kaum war er ein paar Tage im elterlichen Hause, da kamen auch bei ihm die bösen Blattern zum Vorschein. Die Krankheit nahm von Tag zu Tag zu und sein Befinden ward höchst bedenklich. – Gott half ihm, er wurde wieder gesund; aber die Spuren der Krankheit sind im zeitlebens als Ehrendenkmal der Nächstenliebe auf seinem Antlitz gezeichnet geblieben. …

War die Gymnasialzeit für Kolping in materieller Hinsicht eine schwere, so war dieselbe aber auch geeignet, jenes merkwürdige Gottvertrauen, welches ihn zeitlebens auszeichnete und das sich wie ein goldener Faden durch dein ganzes Leben zieht, wie wir an vielen Beispielen noch öfter erkennen werden, zur höchsten Entwicklung zu bringen. „Gott will es so, und was Er will, geschieht!“ Das war sein Wort in freudigen und in ernsten Tagen. Dieses schöne Wort trieb ihn zum Studium, ließ ihn bei seinem armen Freunde den Dienst eines barmherzigen Bruders verrichten und hielt ihn aufrecht in wiederholter Krankheit. Es hob ihn über alle Schwierigkeiten hinweg, wenn die Subsistenzmittel aufzugehen und die Quellen, aus denen er seine Unterhalt schöpfte, zu versiegen drohten. ...

Die Gymnasialzeit nahte ihrem Ende. In 3 1/2 Jahre hatte der wackere Student den Kursus vollendet. Es galt nun, dass Abiturientenexamen zu machen und das Zeugnis der Reife zu den höheren Studien zu verdienen. Zu diesem Zwecke und zur Zulassung zur Maturitätsprüfung musste von den Primanern ein Gesuch eingereicht, in demselben der bisherige Lebenslauf geschildert und der künftige Beruf bezeichnet werden. Wohl alle, die damals mit Kolping auf der Schulbank saßen, werden sich unzweifelhaft recht kurz gefasst haben, weil ihr Lebenschiff im ruhigen Wasser ziemlich bequem dahin gesegelt war und mit Klippen und und Tiefen selten zu kämpfen gehabt hatte. Anders lag die Sache bei Kolping. Sein bisheriger Lebenslauf war ja ein großes Stück Lebensgeschichte und zugleich ein bedeutsames Blatt aus der Geschichte der Ratschlüsse Gottes mit den Menschen. Sein Aufsatz wurde aus diesem Grunde nicht nur ein umfangreicher, sondern auch ein jeden Leser in tiefster Seele ergreifender. Außerdem ist er einer der vortrefflichsten Selbstbiografien. Wir würden uns daher eines Unrechts schuldig machen, wenn wir ihn dieser Lebensgeschichte nicht einverleibten. Er ist überschrieben „Curriculum vitae“ und datiert vom 25. Februar 1841. Kolping schreibt an seinem Lehrer folgendes:

„Wenn es für den Schüler eines Gymnasiums, der im Begriffe steht, die Anstalt, die ihn sozusagen großgezogen hat, zu verlassen, nicht schwer werden dürfte, einen kurzen Abriss seines Lebens in die Hände seiner Lehrer niederzulegen, so finde ich doch eine Schwierigkeit in dem Umstande, daß ich erst in einem Alter in die Anstalt aufgenommen worden bin, worin andere dieselbe zu verlassen pflegen. Ein ganzer Lebensabschnitt liegt außer diesem Zeitpunkt, und dieser ist zu wichtig in seinen Folgen, zu reich an Erfahrungen gewesen, als dass er nicht auf die jüngste Periode meines Lebens einen merklichen Einfluss ausgeübt hätte, als dass ich ihn bei der Zusammenstellung meiner Begegnisse im Leben übergehen sollte. Liegt doch darin der Schlüssel zu meinem ganzen Benehmen, zu meiner Haltung, zu meiner künftigen Wirksamkeit. Denn, in der Tat, noch bevor ich die Schwelle unseres Gymnasiums überschritten hatte, hatte ich schon ein eigenes Leben in seinen Tiefen durchlebt, hatte schon mit dem Leichtsinn eines Knaben Kartenhäuser gebaut, mit dem Feuer eines Jünglings große Pläne entworfen, Hoffnungen gehegt, sie verschwinden sehen; hatte schon mit dem Ernst eines Mannes, möcht' ich sagen, auf die zusammengestürzten Pläne geschaut und mich an dem Spiel des Lebens satt gesehen. Was nun aber den Übergangspunkt aus jener in vielfacher Beziehung für mich wichtigen Lebenszeit bildet, was mich zu dem Entschlusse führte, von neuem gleichsam die Knabenjahre zu beginnen, das muss ich in seinen Hauptmomenten in meiner Erzählung mit berühren; es würde sonst kein Zusammenhang in das Ganze kommen; man würde zwar die Ergebnisse wissen, aber die Beweggründe deshalb doch nicht entdeckt haben. Wenn meine Erzählung auch die gewöhnliche Grenze eines Aufsatzes der Art überschreiten sollte, so wolle man mir das verzeihen; gerade alltäglich sind ja auch meine Begegnisse nicht, und wenn ich meinen verehrten Lehrern die notwendigsten Aufschlüsse über mein Bestreben, mein Handeln und Wollen darlege, so werden sie darin gewiss nur den Beweis finden, wieviel Zutrauen der scheidende Schüler zu ihnen hegt.

Im Jahre 1813, den 8. Dezember, wurde ich zu Kerpen, einem Marktflecken des Kreises Bergheim, geboren. Meine Eltern waren stille, ehrbare Leute, deren ganzes Vermögen in einer zahlreichen Familie bestand, deren Unterhalt ihnen vollauf zu tun gab. Die Schafherde meines Vaters, ein Häuschen mit Garten und einige Stückchen Land bildet noch heute das treu bewahrte Erbe unserer Ahnen. Worauf aber doch meine Eltern mit emsiger Sorge acht hatten, war die Erziehung ihrer Kinder; den Unterricht durften diese um keinen Preis verabsäumen. Dies kam mir als dem Jüngsten noch besonders gut zustatten, da die übrigen Geschwister bereits den Eltern in den häuslichen Verrichtungen helfen konnten, ich aber nur auf die Schule angewiesen war. Schon frühe regte sich eine große Lernbegierde in mir, die mein Lehrer, ein in jeder Hinsicht ausgezeichneter Mann, wohl zu wecken und anzufeuern verstand. Die glücklichsten Stunden meines Lebens habe ich unter seinen Augen zugebracht, wenn er mit der Liebe eines Vaters seinen aufhorchenden Schülern die Lebensgeschichten großer Männer erzählte oder ihnen Kenntnisse mitteilte, die, wenn sie auch außer dem Kreise einer gewöhnlichen Landschule lagen, doch dem wißbegierigen Knaben so willkommen waren. Aber gerade dadurch wurde jener Trieb nach einer höheren Ausbildung in meine Seele gepflanzt, den ich später nicht mehr unterdrücken konnte. Mit dem vollendeten zwölften Jahre aber begannen meine Eltern zu ratschlagen, was nun künftig meine Bestimmung sein sollte, denn die letzte Klasse meiner Schule war durchgemacht und für mich also da nichts mehr zu tun. Wohl hätte ich gern mein Studium fortgesetzt, aber dazu konnten sich meine Eltern nicht entschließen, denn woher sollten sie die Mittel nehmen, einen solchen Plan auszuführen? Zudem war niemand, der ein solches Unternehmen in seinen Schutz genommen hätte, und ohne fremde Mithilfe war es schlechterdings nicht möglich. Das Rätlichste war, ein Handwerk zu erlernen, weil dann für mein künftiges Auskommen am besten gesorgt schien. Selbst bei der Wahl eines solchen musste ich auf die Verhältnisse meiner Eltern Bedacht nehmen, da ich nicht verlangen konnte, daß sie für mich größeren Aufwand machen sollten als für meine übrigen Geschwister. Ich entschloss mich also, wenn auch mit schwerem Herzen, das Schuhmacherhandwerk zu erlernen. Bald war ein Meister in meiner Heimat gefunden, und ich trat, noch nicht volle 13 Jahre alt, meine Lehre an. Aber während derselben zeigte sich, wonach der Geist am meisten verlangte, denn die einzigen Verweise meines Lehrmeisters erhielt ich nur wegen meiner Leselust, die ich in jedem freien Augenblicke zu befriedigen suchte. Dabei hegte ich doch immer eine große Meinung von meinem Stande, und mein ernstliches Bestreben ging dahin, mich in diesem von niemandem übertreffen zu lassen. Die Lehre war indes überstanden, ich von manchen Banden frei, die meine geheimsten Wünsche gefesselt gehalten hatten, nun konnte ich, hatte die Feierstunde geschlagen, nach Herzenslust lesen und den Kreis meiner Kenntnisse erweitern.

Unglücklicherweise konnte ich nur höchst mittelmäßige, oft sogar nur schlechte Volksbücher auftreiben; aber wie sich der Körper an schlechte und grobe Speise gewöhnt, wird ihm keine andere geboten, so mußte sich auch der Geist nur mit dem begnügen, was ihm zunächst lag. Durch dieses zweifache Bestreben nach geistiger und körperlicher Ausbildung, wobei eines natürlich die Oberhand gewinnen mußte, legte ich den Grund zu einer mir anfangs selbst unerklärlichen Ruhelosigkeit, deren Grund ich aber allmählich einzusehen begann. Mein Wissen genügte mir nicht, meine Fertigkeiten in meinem Fache schienen mir nach der Vorstellung, die ich davon hatte, nicht hinzureichen, des Dorflebens wurde ich überdrüssig, weil ich mich in jeder Hinsicht gehindert glaubte: Also entschloss ich mich, die Städte in der Umgegend zu besuchen, um auf größeren Werkstätten vollkommenere Arbeit, gebildetere Menschen zu suchen, um wenigstens den Studien nahe zu sein, die ich im Grunde des Herzens über alles liebte. Acht Jahre lang bin ich von einer Stadt zur anderen gewandert, habe in mancher Werkstätte gearbeitet, viele Menschen kennengelernt, das Leben von guten und bösen Seiten angeschaut, und am Ende, als ich über alles mir genaue Kunde verschafft hatte, fand ich mich selbst tief in ein Verhältnis verwickelt, das mir nur zu deutlich zeigte, wie unglücklich ich geworden war. Denn, wenn ich auch in meinem Fache die nötigen Fertigkeiten erlangt hatte, um mich in den ersten Werkstätten um Arbeit bewerben zu können, wenn ich auch wirklich bis zur höchsten Stufe in Jahresfrist zu gelangen hoffte, so hatte ich auch mit diesem Umstande die Überzeugung gewonnen, dass ich mich entweder auf dieser Höhe nicht halten durfte, dass ich wieder tief hinabsteigen musste, wollte ich Ruhe in meinem Inneren begründen, oder dass ich mich lebenslänglich an Ketten schmieden musste, vor denen das Herz sich empörte. Gebildete Menschen hatte ich gesucht, rohe Gemüter, meist schon in ihrem tiefsten Innern verdorben, die sich der größten Entsittlichung nicht schämten, hatte ich gefunden. Bildung war mein Augenmerk, als ich wohlgemut durch die Tore einer benachbarten Stadt hindurchschritt, und anstatt in meiner Umgebung auf Bildung zu treffen, fand ich nur krasse Unwissenheit, zwar eine äußere Abgeschliffenheit, aber dafür die geistige Erbärmlichkeit auch über die Maßen groß.

Elend war ich, wenn ich mich an meine Umgebung anschloss, mit ihr lebte und mit gleichem Leichtsinn des Schöpfers kostbarste Gaben verschleuderte, unglücklich, wenn ich es versuchte, mich von ihnen loszumachen, um meinen eigenen Weg zu gehen. Das letztere war fast nicht möglich, da das genannte Geschäft durchaus ein enges Zusammenleben bedingt. Und wer würde sich auch sonst an den Schuster anschließen, wenn er auf eine höhere Bildung Anspruch machen kann? Das Bewusstsein meiner unglücklichen Lage wurde noch schmerzlicher, als ich durch die Leserei, der ich mich nie entwöhnen konnte, ganz andere Begriffe über den Menschen, seine Bestimmung, über die Würde einer höheren Bildung erlangte. Ich fand mich vereinsamt mitten unter meinen Standesgenossen, an eine Lebensweise gebunden, die mir allmählich Grauen einflößte, und doch keinen Ausweg vor mir, aus diesem Labyrinthe zu entkommen. Ich war nahe 22 Jahre alt, hatte die Grundlage zu meinem äußeren Fortkommen gelegt, schon freuten sich die Eltern, mich bald versorgt zu sehen, und ich war rat- und hilflos. Unter dieser Volkshefe konnte ich nicht sitzen bleiben, nicht mein ganzes Leben unter den obwaltenden Umständen verkümmern lassen; und aus dem Verhältnisse heraustreten, von neuem eine andere, mir mehr zusagende Lebensweise beginnen, das ebenso gewagt als gefährlich war.

Was beginnen? Ohne Mittel, ohne Hilfe, nur mir selbst überlassen? Die besten Jugendjahre hatte ich an die Erstrebung eines Zieles gesetzt, das um so weiter von mir rückte, je näher ich ihm zu kommen glaubte. Mein Stand und die Bildung, zu der ich mich, der eigenen Führung überlassen, hinausschwingen wollte, waren unvereinbar, das war mir klar geworden. Auf eines musste ich verzichten, wenn ich Zufriedenheit und Ruhe finden wollte. Ein Handwerker, der zu viele Kenntnisse besitzt, die nicht zu seinem Gewerbe gehören, bringt's in demselben nie oder doch höchst selten weit. Die Erfahrung davon hatte ich oft gemacht und die bösen Folgen mehr wie einmal bedauert. In dieser Hinsicht war mein Schicksal klar. Wenn ich nun aber mein Gewerbe aufgab und mit ihm alle Vorteile meines Fortkommens, Kenntnisse, an denen ich zehn Jahre lang mit Mühe gesammelt hatte, was sollte ich dann beginnen? Wenn ich mein Gewerbe niederlegte, musste ich doch in Rücksicht meiner Bildung gewinnen, sonst war dieses ja nutzlos. Dass ich noch studieren würde, das Gebäude meiner Bildung von Grund aus neu aufführen müsse, fiel mir damals noch nicht ein, und ich würde damals meine spätere Stellung wohl auch belächelt haben.

Doch war dies wohl das geringste Hindernis, ein anderes, weit größeres, drückte meinen Geist nieder und verbitterte mir das Leben noch mehr. Was sollte mein armer, alter Vater sagen – die Mutter war vor einigen Jahren gestorben –, wenn ich nun mein Gewerbe aufgab und er an mir auf lange Zeit eine Stütze verlor, deren er so sehr bedurfte? Noch keines von meinen Geschwistern war versorgt, und schon bedurfte es gesamter Kräfte, das sinkende Hauswesen aufrechtzuerhalten. Eine höhere Stimme als meine Wünsche gebot mir Einhalt in meinen Wünschen. Ich suchte mich zu beschwichtigen, aber die Freudigkeit des Lebens war zerstört, und nur schlecht vermöchte ich mich in dem alten Geleise zu halten. Es bedurfte noch zur Vollendung meiner unglücklichen Lage des Gedankens, dass mein Alter mir nicht mehr gestattete, und in der Folge mir gar nicht gestatten würde, meinen Stand ändern zu können. Also mein Leben lang diese Kette herumzuschleppen, die mich schon so herb drückte, mein Leben lang in dem Schmutze sitzen zu bleiben, der mich schon so lange angeekelt hatte, der Gedanke wurde mir unerträglich. Kölns erste Werkstatt hatte ich erreicht, saß in einem Kreise, nach dem sich so viele vergeblich bewarben; aber noch erbebt mein Inneres, wenn ich an die schrecklichen Tage gedenke, die ich dort mitten unter der Liederlichkeit und Versunkenheit von Deutschlands Handwerks-Gesellen zugebracht habe. Man wird vielleicht die Schilderung von meinen Standesgenossen für allzu grell halten, aber ich könnte, wenn es hier an der Stelle wäre, Belege dazu liefern, welche die möglichen Begriffe davon übersteigen. Schätze sich jeder glücklich, der nie so etwas sah und hörte, der nie mit solchen Menschen in Berührung kommt! Mein Unglück, und das war meine Lage doch sicher, war auf dem Höhepunkt, bald sollte es besser werden. Hatte ich meine Ruhe und Zufriedenheit eingebüßt, war mein Glaube an die Menschheit wankend geworden, so sollte ich reichlich entschädigt werden, sollte wieder Menschen finden, nach denen ich mich lange vergeblich umgesehen hatte. Die Vorsehung führt die Wege des Menschen oft wunderbar, auch ich habe das deutlich erfahren. Angestrengte Arbeiten, Nachtwachen und mein ruheloser Gemütszustand hatte im Frühjahr 1836 mir eine Krankheit zugezogen, zu deren Heilung ich nach dem Rate des Arztes auf einige Zeit meine Arbeit beiseite legen und die frische Landluft genießen sollte. Ich ging nach Hause, besorgt, was die Meinen über meine Lage sagen möchten; denn ich hatte mich entschlossen, ihnen alles offen zu erklären. Man bemerkte meine trübe Stimmung, und ich machte auch keinen Hehl daraus. Anstatt aber dort auf Widerstand zu treffen, fand ich nur die aufrichtigste Teilnahme, und selbst mein alter Vater meinte, wenn ich mit meinem Stande nicht zufrieden wäre, so sollte ich nur nach meinem Gutdünken mich nach einem andern umsehen, seine Zustimmung hätte ich, da er überzeugt sei, daß mich Gott zum Besten leiten würde.

Das war genug, um gleich einen Plan zur Reife zu bringen, mit dem ich mich lange herumgetragen hatte. Schon in Köln war mir ein Schriftchen von einem Pfarrer aus unserer Nachbarschaft in die Hände geraten, dessen Geist mir einen teilnehmenden, verständigen Mann anzudeuten schien. Auch vermehrte die Schilderung seines Charakters, die ich zu Hause leicht erhalten konnte, meine Achtung und mein Zutrauen zu ihm, und an ihn entschloss ich mich zu schreiben, ihm meine Lage zu schildern und mir wenigstens einen guten Rat zu erbitten. Auch verhehlte ich ihm meinen Wunsch nicht, Theologie zu studieren, wenn anders diese Studien noch durchzuführen möglich sei. An Hindernisse, Schwierigkeiten, tausend andere Sachen, die mit meiner großen Bitte zusammenhingen, dachte ich weniger, als dass man an der Wahrhaftigkeit meiner Worte zweifeln würde oder doch mit Misstrauen den Handwerksgesellen betrachten, der mit solch einem wunderlichen Antrage heranrückte. Doch musste jedenfalls dem edlen Pfarrer mein Schreiben sonderbar vorkommen, und er wünschte mich zu sprechen. Mit welchen Gefühlen ich zu ihm eilte, zu ihm, von dem ich Erlösung aus meinen Banden erwartete, der mir die Bahn eines neuen Lebens vorzeichnen sollte, kann ich unmöglich schildern. Bald stand ich ihm gegenüber; seine Freundlichkeit, seine Güte machte mir Mut, ich gestand ihm meine hilflose Lage und er hatte nur Worte der Aufmunterung, des Trostes. Zuerst zeigte er mir die Wichtigkeit und Schwierigkeit meines Unternehmens; aber als er mich bereit fand, auch das Härteste über mich zu nehmen, wenn es nur zum Ziele führe, da bot er mir die Hand zur Hilfe, zur tatkräftigen Freundschaft an und machte mir vollends Mut, jede Fessel zu zerbrechen, die mich an mein Gewerbe band. Mit welcher Begeisterung ich nun meine Studien beginnen würde, hatte der sachkundige Mann wohl eingesehen, auch dass mir das sehr schädlich seine könne; er gab mir deshalb den Rat, meiner Verpflichtung in Köln bis auf den letzten Tag nachzukommen, während dieser Zeit aber in den Freistunden zu einem von ihm bestimmten Lehrer zu gehen, um dort die Anfangsgründe der lateinischen Sprache zu erlernen. Man kann sich denken, mit welcher Freude ich schied und wie ich mich bestrebte, recht viel in kurzer Zeit zu lernen. Der Menschenfreund, den ich zuerst gefunden, sollte sich an mir nicht getäuscht haben. Noch fast zwei Monate blieb ich in der Werkstätte, setzte meine Arbeit fort und suchte in den Abendstunden lateinische Deklinationen und Konjugationen einzuüben. Im Anfange hielt es außerordentlich schwer, die notwendigen Begriffe einzuprägen; mein Lehrer erklärte mir nichts, und meist war ich mir selbst überlassen. Aber der gute Wille und die Ausdauer siegte doch endlich, und Formen begannen mir geläufiger zu werden. Darauf begab ich mich um Ostern nach Hause, wo ich dann in den Nachmittagsstunden den nur eine Stunde entfernten Pfarrer besuchte.

Wenn etwas bei dem Gange des Unterrichts versehen ward, so war es meinerseits die allzu große Eile, mit der ich, die Anfangsgründe zu wenig beachtend, nach der Hauptsache strebte. Die Folgen davon habe ich noch lange nachher empfunden. Den Sommer über wurden meine Studien mit rastlosem Eifer fortgesetzt, ich arbeitete des Morgens, und die Nachmittage waren den Studien gewidmet. Ich hegte die schönsten Hoffnungen. Da störte ein Befehl der geistlichen Oberbehörde, die den geistlichen Freund nach einer entfernteren Pfarrei versetzte, meine Pläne wieder. Dadurch wurden meine Studien zerrissen, und ich war wieder in eine bedrängte Lage geraten. Mit dem Freunde ziehen konnte ich nicht, hatte er doch selbst kaum sein Auskommen, und wer würde nun meine Studien leiten? Doch mein Freund blieb in seiner gütigen Fürsorge nicht zurück; er empfahl mich einem jungen Geistlichen meiner Pfarre, der auch mit der größten Bereitwilligkeit meinen Unterricht übernahm und mir ihn unentgeltlich, gern und mit der redlichsten Gewissenhaftigkeit erteilte. Bei diesem Herrn, Theodor Wollersheim, wurden meine Studien zuerst nach dem Plane des Gymnasiums eingerichtet. Mit unermüdlicher Geduld suchte er mir außer der Form auch das Wesen der Sache beizubringen, und nur zu leid tat es mir, wenn ich's in dem einen oder andern versah. Schwer mussten mir die Studien werden, das lag in der Natur der Sache, ich hatte schon zuviel in der Welt um mich geschaut, war dadurch zum Nachdenken angeregt worden, und der Verstand konnte sich nur mit großer Mühe mit diesem Formenwesen, an das er nie gewohnt gewesen, befassen.

Doch war ich bis zum Herbste des Jahres 1837 so weit vorgerückt, dass ich in die Tertia unseres Gymnasiums konnte aufgenommen werden. Mangelte auch noch manches meinem Wissen, so habe ich es der Güte meiner Lehrer zu verdanken gehabt, dass ich mit den besten Zeugnissen diese Klasse beim Jahresabschlusse verlassen konnte. In Köln war ich endlich wieder, das ich mit so hoher Freude verlassen hatte. Hier hatte ich jahrelang meiner Erlösung entgegengehofft, hatte hier so manche trübe, verbitterte Stunde durchlebt, hier fand ich mich endlich wieder, und zwar in einem Verhältnisse, das ich früher oft mit sinnendem Geiste betrachtet, in das ich mich oft gewünscht hatte, aber einen vergeblichen Wunsch, wie so viele andere, zu hegen glaubte. Ich war zwar wieder zum Knaben geworden, musste mich Gesetzen unterwerfen, die gewiss auf mich nicht berechnet waren, aber warum sollte ich mich nicht diesen fügen, warum nicht von der untersten Stufe an aufsteigen zu einem Ziele, das glänzend, fest und bestimmt mir vorschwebte? Dieses Verhältnis war auch das Geringste, was mich kümmerte, vielmehr lagen mir andere Hindernisse im Wege, deren Beseitigung mir mehr Mühe, Arbeit, Sorge und Kummer gemacht hat, die noch meine freie Tätigkeit hemmen und den frischen Sinn nicht aufkommen lassen, der zu den Studien so unumgänglich notwendig ist. Diese Hindernisse machte die Sorge um meinen Unterhalt, denn jetzt galt es nicht mehr zu arbeiten, sondern zu studieren und zu leben, die beiden letzteren Teile waren übriggeblieben, und die Haupterwerbsquelle musste aufgegeben werden. Obwohl meine Freunde mir anfangs nach Kräften fortzuhelfen versprachen, dies auch redlich taten, bis ich mit den eigenen Kräften auslangen würde, so fühlte ich doch bald, daß dies Unbilliges sei, wenn ich mich bloß auf die Hilfe derer, die bis dahin mir so viel Liebe erwiesen hatten, verlassen sollte. Zudem hatten diese kaum selbst ihr Auskommen. Von Hause aus aber durfte und konnte ich aus leicht erklärbaren Gründen nicht erwarten, würde auch nichts genommen haben, und war folglich auf mich selbst und die Güte eines Verwaltungsrates der Stiftungsfonds hingewiesen. Von diesem erhielt ich im Jahre 1838 eine Stiftung von 52 Talern, und da die Güte meiner Lehrer mir auch das freie Schulgeld zukommen ließ, so war die Erschwingung der übrigen Kosten doch noch immer möglich, wenn ich auch darüber manches andere, vielleicht wesentlich Notwendige, verlor. Als ich aber um Ostern des Jahres 1839 an den Blattern schwer erkrankte, dadurch längere Zeit unfähig war, meine Studien fortzusetzen, darauf in die Obersekunda versetzt wurde, meine sonstigen Hilfsquellen rein versiegten und, um das Maß der Sorgen vollzumachen, durch einen Beschluss des Ober-Schulkollegiums die Freischule mir genommen wurde, da galt es, den ganzen Mut zusammenzunehmen, um im Geleise zu bleiben. Wie gütig war die Gottheit, dass sie mir die Masse von Schwierigkeiten, die sich mir auf meiner heiss ersehnten, aber mühsamen Bahn entgegenstellten, nicht auf einmal zeigte, dass sie die Binde allmählich von meinen Augen löste, während ich schon die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte! Aber wenn nun auch nicht alles nach Wunsch ging, wenn manches halb vollendet, manches ganz unberührt liegenblieb, wenn der ermüdete, abgeplagte Körper dem immerfort treibenden Geiste den Dienst versagte, wenn der Geist selbst endlich sich in allen Formen nicht mehr zurechtfinden konnte, so wird man dafür noch immer eine Entschuldigung finden, jedenfalls nicht den Stab darüber brechen. Mag sich der glücklich preisen, den die Sorgen des Lebens in seinem Wirkungskreise nicht hemmen! Mir ist bis jetzt ein solches Glück nicht zuteil geworden, weiss aber auch aus Erfahrung, von welchen Folgen eine solche Lage ist. Mehr wie einmal bin ich im Leben in gedrückten Verhältnissen gewesen, habe mehr wie einmal gefühlt, was der verliert, der zu seiner Ausbildung, die ihm am Herzen liegt, nicht die nötigen Mittel herbeischaffen kann; aber noch nie ist dieses mir so schmerzlich auf die Seele gefallen als in den letzten Jahren, da, als ich den Wert der zu erwerbenden Kenntnisse erst ganz begriff und um des täglichen Unterhaltes willen meine Zeit, meine Kräfte und meine Gesundheit opfern musste.

Im Jahre 1838 befiel mich ein gefährlicher Bluthusten, der sich im folgenden Jahre wiederholte und selbst jetzt wiederzukehren droht. Vorsichtig muss ich noch mit mir selbst umgehen, und übermäßige Arbeit kann und darf ich jetzt nicht über mich nehmen. Nun bin ich jetzt durch den Drang der Umstände genötigt worden, mit der Bitte zur Aufnahme zum Abiturienten-Examen bei meinen verehrten Lehrern einzukommen, und ihre Güte ist meinen Wünschen und Gründen zuvorgekommen. …

Ist dieses (Examen) glücklich bestanden, dann beginnt der dritte Lebensabschnitt für mich, in dem ich freier und tätiger für meinen künftigen Beruf wirken kann. Seit 14 Jahren, der schwersten Zeit meines ruhelosen Lebens, ist die Sorge nicht von mir gewichen, bald aber, so hoffe ich, wird sie mich, wenigstens in dieser drückenden Gestalt, verlassen. Für meine akademischen Studien ist gesorgt, ein heiteres Leben und mithin ein tätigeres wird dann beginnen …

Wie glücklich würde ich mich schätzen, wenn ich die alten Tage meines Vaters noch mit Ruhe und Freude genießen könnte, wie glücklich, wenn es mir gelingen würde, ein nützliches, tätiges Mitglied der Kirche und des Staates zu werden! Mein redliches Bestreben wenigstens, dass meine Vorgesetzten bis dahin nicht an mir werden erkannt haben, möge die Gewähr meine aufrichtigen Gesinnung sein! Und so empfehle ich mich meinen verehrten Lehrern zu gütigem Andenken.

Köln, den 25. Februar 1841
Ad. Kolping“

Der sonst fünfjährige Gymnasialkursus war von Kolping in dreieinhalb Jahren – vom Herbst 1837 bis Ostern 1841 – beendigt. Am Schlusse des Curriculums vom 25. Februar 1841 lassen wir die Worte: „Für meine akademischen Studien ist gesorgt.“ Wie dafür gesorgt wurde, das können wir nicht ohne Ergriffenheit erzählen, denn die Sache ist durch und durch providentiell. Als Kolping sich dem heiß ersehnten Ziel, dem Abiturientenexamen, näherte, im Winter 1840-41, trat selbstverständlich die Frage häufig und dringlich an ihn heran, wohin er sich wenden werde, um den theologischen Studien obzuliegen. Bonn, die Hochschule der Provinz, lag allerdings am nächsten. Das katholisch-theologische Convictorium daselbst hätte ihm, als einem Diözesanen, gewiss seine Tore geöffnet. Aber er hatte durchaus keinen Zug nach Bonn und sprach sich seinen Freunden gegenüber ganz offen darüber aus. Dagegen zog es ihn mächtig nach München. Dort wehte ja damals eine besonders warme katholische Luft. Die katholische Fakultät zählte einen Kreis ausgezeichneter Männer, die ihre Zuhörer wahrhaft zu elektrisieren verstanden, und ihnen schlossen sich in Bezug auf Wissenschaft und Bekenntnis des Heiligsten Professoren der anderen Fakultäten, besonders der philosophischen, würdig an. Männer wie Döllinger, Reithmayr, Haneberg, Stadlbaur, Windischmann, Phillips, Höfler waren Zierden der Ludwigs-Universität, vor allen aber der gewaltige Joseph Görres, der Sohn des Rheinlandes.  

Gar ja manche rheinische Studenten machten daher in den vierziger Jahren ihre Studien in Bayerns Hauptstadt, und so lag´s auch in Kolpings Sinn, wenn nur irgend möglich, nach München zu gehen. Aber dazu gehörten sehr generöse Wohltäter, die man nicht aus der Erde stampfen konnte. Einer seiner Jugendfreunde, der schon erwähnte Pfarrer Frincken zu Manheim, der an dem Lebens- und Studiengange Kolpings von früh auf den wärmsten Anteil nahm, studierte, nachdem es Gottes Gnade mit ihm gefügt hatte, dem Lehrerstand Lebewohl zu sagen, um diese Zeit in Belgien Theologie. Durch die Verbindungen desselben mit dem Kardinal Engelbert Sterkr, mit Professor Möller und anderen einflussreichen Männern war Kolping eine Freistelle in der Propaganda angeboten. Der Freund schrieb ihm, es sei in Rom alles für ihn in Ordnung gebracht, er möge nur angeben, wann er abzureisen gedenke. Zu seinem großen Erstaunen erhielt er jedoch von Kolping folgende Zeilen:

„Lieber Freund! Ich reise nicht nach Rom, sondern gehe nach München. Du wirst fragen: Woher das Geld? Ich habe jetzt mehr, als ich brauche; Gott hat wunderbar geholfen. Es ist zu weit, dies schriftlich mitzuteilen; darum alles mündlich bei deiner bevorstehenden Überkunft. Dein A.K.“

Die wunderbare Hilfe Gottes aber zeigte sich im folgenden: Im letzten Jahre seiner Gymnasialzeit wurde Kolping eines Tages im Winter noch sehr spät am Abend durch einen anonymen, von Frauenhand geschriebenen Zettel in ein in der Nähe des Domes gelegenes altes Haus gerufen. Trotz des seltsamen Umstandes glaubte Kolping dennnoch dem Rufe folgen zu müssen und machte sich alsbald auf den Weg. An der Türe des betreffenden Hauses fand er einen Mann, der schon auf ihn wartete, ihn zugleich zwei dunkle, für einen unbekannten ziemlich lebensgefährliche Stiegen hinaufführte und, oben angelangt, eine Türe öffnete, mit dem Bedeuten, einzutreten. Hier bot sich Kolping ein ergreifender Anblick da: links in der Ecke eines kleinen, spärlich erleuchteten Zimmerchens lag auf einem ärmlichen Bette ein Sterbender und vor demselben auf dem Fußboden kniete eine Dame, in der Kolping als bald die älteste Tochter des Gutsbesitzers M. erkannte, bei dem sein Vater als Schäfer in Diensten stand. „Erschrecken Sie nicht, lieber Kolping“, redete ihn die Dame alsbald an, „dass Sie mich hier treffen und dass ich Sie noch so spät habe rufen lassen; es blieb mir keine andere Wahl. Ich habe eine Bitte an Sie, für deren Erfüllung ich Ihnen sehr dankbar sein werde. Stehen Sie diesen Mann hier, der Ihnen nicht unbekannt sein wird, im Tode bei uns sorgen Sie dann, dass ihm ein anständiges kirchliches Begräbnis zuteil wird; die nötigen Geldmittel finden Sie in diesem Papier eingeschlossen. Ich selbst kann keinen Augenblick mehr bleiben, später aber sollen sie über alles Aufklärung erhalten.“ Damit entfernte sich die Dame. Der Sterbende hauchte noch in derselben Nacht unter den Zusprüchen Kolpings seinen Geist aus, und dieser ließ er sich angelegen sein, die Wünsche betreffs des Begräbnisses pünktlich zu erfüllen. Wie die Dame richtig voraussetzte, hatte Kolping den sterbenden bald wieder erkannt. Es war ein ehemaliger Student der Theologie, gleichfalls in der Nähe von Kerpen gebürtig, der aber durch Trunksucht seinem Berufe entfremdet worden und nach Verlassen der Bonner Universität zuletzt in der Heimat müßig und planlos herumgeirrt war. Um ihn der Müßigkeit zu entziehen und wieder auf bessere Wege zurückzuführen, hatte dann der Gutsbesitzer M., der Vater der vorhin genannten Dame, ihn als Hauslehrer in seine Familie aufgenommen. Aber auch diese Stellung wurde ihm durch seine Trunksucht später wieder unmöglich gemacht. Noch klägllicher scheiterte ein zweiter Versuch, ihn als Schullehrer eine Existenz zu verschaffen, bis er zuletzt in Köln das eben beschriebene traurige Ende fand. 

Der tiefe Eindruck, den dieser Zwischenfall auf das Gemüt Kolpings gemacht hatte, wurde indessen bald wieder verwischt durch die großen Sorgen und Anstrengungen, welche im Gymnasialleben dem Abiturientenexamen voranzugehen und das selbe zu begleiten pflegen. Kolping befand sich zu Kerpen im elterlichen Hause, körperlich und geistig zwar aufs äußerste erschöpft, aber mit dem tröstlichen Bewusstsein, dem Ziel seiner Sehnsucht, das bis dahin in fast unabsehbarer Ferne vor ihm gelegen hatte, bedeutend näher gerückt zu sein.

Kolping befand sich zur Kerpen im elterlichen Hause, körperlich und geistig zwar aufs äußerste erschöpft, aber mit dem tröstlichen bewusst sein, den Ziele seiner Sehnsucht, dass bis dahin in fast und absehbarer Ferne vor ihm gelegen hatte, bedeutend näher gerückt zu sein.

Da kam eines Tages des Gutsbesitzers Tochter, Fräulein M., nach Kerpen zur Kirche, machte nach der heiligen Messe im Kolpingschen Hause einen Besuch und lud den angehenden Theologen ein, sie auf dem Rückweg nach ihrem Gute zu begleiten. Als sie auf diesem Wege bis zum großen Kreuze gekommen waren, woselbst am Fronleichnamstag für die Gutsleute der Segen gegeben wurde und das deshalb auch in hohen Ehren stand, blieb Fräulein M. stehen und sprach zu Kolping: „Der eigentliche Grund, weshalb ich um Ihre Begleitung gebeten habe, besteht darin, um Ihnen meinen Dank abzustatten für die große Bereitwilligkeit, womit sie im vergangenen Winter zu Köln meine Bitte erfüllt haben; zugleich bin ich Ihnen aber auch Aufklärung schuldig über meine Beziehungen zu jenem unglücklichen Mann, den sie gleichfalls gekannt haben.

Während er auf unserem Gute als Hauslehrer für meine Geschwister tätig war, habe ich eine tiefe Neigung zu ihm gefasst und sie bis zu seinem Tode bewahrt. Aus diesem Grunde habe ich ihn auch unterstützt und für ihn Sorge getragen, als er später dem Elende gänzlich anheimgefallen war. Auf die Nachricht von seinem bevorstehenden Tod bin ich dann, ohne vorher mit jemanden Rücksprache zu nehmen, sofort nach Köln an sein Sterbebett geeilt, habe Sie rufen lassen und Ihnen meine Wünsche mitgeteilt und bin dann noch in derselben Nacht wieder hierher zurückgekehrt. Obgleich ich nun das Bewusstsein hatte, dass der Verstorbene nicht durch meine Neigung, sondern durch seine eigene Leidenschaft seinem Beruf entfremdet und ins Unglück gestürzt worden ist, so lag mir doch der Gedanke schwer auf der Seele, dass ich durch meine Neigung in die Lebensschicksale dieses unglücklichen Mannes verflochten worden war, und ich glaubte damit die Pflicht überkommen zu haben, für ihn Buße zu tun und seine Schuld sühnen zu helfen. Darum bin ich in jener Nacht auf dem Rückwege hierher vor diesem Kreuze in den Schnee niedergekniet und habe das Gelübde getan: für die Seelenruhe des Verstorbenen und zur Sühnung seiner Schuld einen hilfsbedürftigen Theologen während seiner Universitätsstudien die nötigen Mittel zu gewähren, und da sie gerade im Begriff stehen, das Studium der Theologie zu beginnen, und überdies mit diese ganze Sachlage bekannt sind, habe mich entschlossen, Sie zu bitten, die Erfüllung meines Gelübdes anzunehmen.“

Mit steigender Aufmerksamkeit hatte Kolping diesen Worten zugehört; seine Gesichtszüge verrieten Ernst und tiefes Nachdenken und in der Antwort, welche er dem Fräulein M. gab, offenbarte sich seine Gesinnung, die als ein hervorstechender Charakterzug durch das ganze Leben Kolpings sich hindurchzieht, nämlich sein stark ausgesprochenes Gefühl für Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, wie es allen hervorragenden Naturen eigen ist. „Es ist ein großes Anerbieten, das Sie mir machen, Fräulein M., ein Anerbieten, das mich mit einem Schlage aller Sorgen für die Zukunft enthebt. Ich versichere Ihnen, keiner ist imstande, die Größe dieses Anerbietens besser zu würdigen als ich, der ich jetzt vier Jahre hindurch für mein leibliches und geistiges Fortkommen so schwer habe ringen und kämpfen müssen; und doch bin ich nicht imstande, Ihnen schon jetzt eine entscheidende Antwort zu geben. So hart und bitter die Kämpfe waren, die ich durchkämpfen musste, so wohltuend ist für mich aber auch nun das Bewusstsein, nur durch eigene Kraft und Anstrengung bis zu dem gegenwärtigen Zielpunkte gelangt zu sein. Schwer fällt es mir, auf dieses Bewusstsein für die Zukunft zu verzichten, zumal die Sorge für mein weiteres Fortkommen unter allen Umständen viel leichter sein wird, als sie es bisher heran gewesen ist. Schenken Sie mir deshalb eine dreiwöchentliche Bedenkzeit, dann werde ich Ihnen eine entscheidende Antwort geben.“

Genau nach Verlauf dieser Frist standen beide wieder an derselben Stelle. Kolping hatte auf dem Weg dorthin dem Fräulein M. viele Begebenheiten aus seinem bisherigen Lebenslauf erzählt, in denen der Finger Gottes nicht zu verkennen, der ihn bis heran, fast auf wunderbaren Wegen seinen Zielen entgegen geführt hatte. Er sehe sich, fügte er bei, gezwungen, auch in ihrem Anerbieten eine besondere Fügung der göttlichen Vorsehung zu erkennen, ihn in den Stand setzen wolle, wie es notwendig sei und wie er selbst es wünsche, sich dem Studium der Theologie ohne fremde Sorgen mit ganzer Seele und allen Kräften widmen zu können.

„Einen Punkt muss ich deshalb,“ fuhr Kolping fort, „ausdrücklich hervorheben. Was Sie mir anbieten, ist der Tribut eines Gelübdes, den Sie Gott schuldig sind. Aus seiner Hand nehme ich es an, ihm allein bin ich auch den größten Dank schuldig; ich darf darum auch die Annahme Ihres Anerbietens an die ausdrückliche Bedingung anknüpfen, dass dadurch an meiner persönlichen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit namentlich in meiner zukünftigen Stellung als Priester nicht das Mindeste geändert wird.“ Diese Bedingung wurde von Fräulein M. als eine selbstverständliche bereitwillig zugestanden, und Kolping bezog wenige Wochen später mit sorgenfreiem Herzen die Universität München.

marzellengymnasium1

Marzellen-Gymnasium in Köln

Meller

Fräulein Meller ermöglichte Adolph Kolping die Aufnahme des Studiums in München

Zur Fortsetzung der Biografie

Teil 3: Universitätsjahre

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