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Anfänge und Grundlagen (1846-1849)

1.1 Gründung in Elberfeld

Der erste katholische Gesellenverein - zugleich Ursprung des heutigen Kol-pingwerkes - ist im Jahre 1846 in der Pfarrgemeinde St. Laurentius in Elberfeld (heute Ortsteil von Wuppertal) entstanden. Seine Entstehungsgeschichte ist mittlerweile hinreichend aufgearbeitet, so daß hier einige knappe Hinweise genügen: Im Frühsommer des Jahres 1846 war es zu einem lockeren Zusammen-schluß junger Männer, zumeist Handwerksgesellen, gekommen, die sich das Ziel gesetzt hatten, als ‚Junggesellen-Chor‘ bei der Laurentiusprozession des Jahres 1846 aufzutreten. Die entsprechenden Proben fanden zunächst in der Werkstatt des Schreinermeisters Joseph Thiel statt, schon bald aber in der Elberfelder katholischen Mädchenschule, deren Hauptlehrer Johann Gregor Breuer die Gesellen bei ihrem Vorhaben unterstützte. Auf fruchtbaren Boden fiel dann die Anregung Breuers, auch nach der Teilnahme an der Prozession zusammen zu bleiben und sich regelmäßig zu bildenden und geselligen Zusammenkünften zu treffen.

Breuer, der im Laufe seines jahrzehntelangen Wirkens in Elberfeld eine große Zahl von Vereinen ins Leben gerufen hat, legte einer Zusammenkunft von mehr als 40 jungen Männern am 26. Oktober 1846 den Statutenentwurf für einen Gesellenverein vor, der von den Teilnehmern auch angenommen wurde. Bei einer neuerlichen Versammlung am 6. November, die als eigentliche Gründungsversammlung gewertet werden kann, wurde bei der Wahl des Vorstandes Kaplan Johann Josef Xaver Steenaerts zum (ersten) Präses des Vereins gewählt, der zunächst als ‚Junggesellenverein‘ ins Leben trat, da es sich bei den Mitgliedern nur zum Teil um Handwerksgesellen handelte. Frühzeitig hat sich allerdings die Bezeichnung ‚Jünglingsverein‘ eingebürgert, die auch von Adolph Kolping zur Bezeichnung des Elberfelder Vereins verwendet wurde, während er seit 1848 in seinem publizistischen Bemühen um die Ausbreitung der Vereinsidee (s.u.) die von Breuer ursprünglich vorgesehene Bezeichnung Gesellenverein verwendete.

In einer vom 23. Oktober 1846 datierten ‚Denkschrift‘ unter Einschluß eines Statutenentwurfes hatte Breuer grundsätzliche Gedanken über einen Gesellenverein niedergelegt und dessen wesentliche Aufgabe dahingehend beschrieben, „einheimischen und fremden Jünglingen und namentlich Handwerkergesellen in einem Alter von 18 bis 25 Jahren und darüber durch Vortrag und passende Lektüre Belehrung, Erbau-ung, Fortbildung und angenehme Unterhaltung und Erheiterung zu verschaffen.“ Diese Denkschrift und das bei der Versammlung am 26.10. ange-nommene, anschließend noch kurzfristig überarbeitete Statut legte Breuer der Pfarrgeistlichkeit und seinem Schulvorstand vor, um für die Unterstützung des Vorhabens zu werben.

In diesem Kontext soll das berühmte, von J.G. Breuer festgehaltene und von Kolpings Nachfolger und Biograph Sebastian Georg Schäffer überlieferte Wort Kolpings gegenüber Breuer gefallen sein: „Da haben Sie aber ein Ding gemacht, woran ich all mein Lebtag gefreit.“ Eine solche Aussage mag Kolpings Begeisterung über die vorgetragene Idee zum Ausdruck gebracht haben, in der Sache trifft sie aber nicht zu, denn Kolping hatte das eigene Handwerkerdasein keineswegs mit der Zielperspektive aufgegeben, später einmal wieder in diesem Bereich tätig zu werden.

Am Schluß des Dokumentes hatte Breuer die Bitte geäußert, die betreffende Anstalt recht bald ins Leben rufen zu wollen, und zwar im Interesse der Jünglinge und der ganzen Gemeinde, besonders aber im Interesse jener kath[olischen] Handwerkergesellen, die an den Abenden der Sonn- und Montage sich oft nirgends zu lassen wissen als etwa in kalten Werkstätten oder in Herbergen oder sonstigen Wirtshäusern oder in Gesellschaften, welche eben nicht sehr erbaulich, wohl aber mitunter gefährlich sind. Das Nützliche und Schöne solcher Anstalten wird man nicht in Zweifel ziehen, und Wünsche für dieselben, sind schon längst in unserer Gemeinde laut geworden.

Vorher sind noch einige besondere Voraussetzungen resp. Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Realisierung der Idee benannt, nämlich (1) Ein passendes Lokal mit Licht und Feuerung, ... (2) eine Verbindung einiger für das Volkswohl begeisterter Männer, die bei völliger Unbescholtenheit mit den erforderlichen Kenntnissen die Gabe der freien Rede und das Geschick verbinden, die jungen Leute belehrend zu unterhalten und unterhaltend zu belehren. Geistliche und Lehrer werden sich hieran beteiligen, doch suche man auch angesehene, gebildete und einflußreiche Männer der Gemeinde durch vertrauliche Rücksprache für die gute Sache zu gewinnen, (3) eine sich allmählich vergrößernde Bibliothek guter, für den Verein passender Schriften ... (4) einige Statuten, die sich über den Zweck, die Einrichtung und Verwaltung des Vereins speziell aussprechen.

Für die weitere Entwicklung des Werkes kommt diesen Hinweisen eine durchaus grundlegende Bedeutung zu: Statutarische Regelungen waren und sind ein unverzichtbarer Bereich der Arbeit im Gesellenverein (Kolpingwerk); die entsprechenden Entwicklungen sind darum auch ein durchgängiges Thema dieser Arbeit. Die Hinweise auf ein passendes ‚Lokal‘ und die sinnvolle Einbeziehung von ‚Männern der Gemeinde‘ kehren bei den späteren Diskussionen resp. Entwicklungen hinsichtlich sowohl der Gesellenhäuser (Kolpinghäuser) als auch der Leitung der Vereine, speziell unter dem Aspekt der Schutzvorstände, wieder; die Einrichtung einer Bibliothek war bzw. wurde bei allen Vereinen ein von Anfang an ein wichtiges Anliegen.

1.2 Begründungen

Breuers Denkschrift setzt ganz allgemein bei der Sorge um die heranwachsende Jugend an: Die tägliche Erfahrung lehrt, daß die Stürme des Lebens je mehr und mehr Verderben bringend auf den Menschen einwirken, daß der Einfluß des Bösen auf die heranwachsende Jugend stärker wird, daß der Feind, der Geist der Sünde, nimmer ruhet, Unkraut zu streuen zwischen den Weizen, den Sinn für Religion und Tugend, und somit auch die Ehre des Menschen und das bürgerliche Glück im Keime zu ersticken; darum tut Hilfe not. Hilfe? Wo? Wie?! Nun ja, es ist leichter gesagt als getan; aber im Grunde ist es doch so schwer nicht, als es wohl scheinen dürfte. Man bringe nur einen guten Willen und scheue ein wenig Mühe nicht. Man halte die heranwachsende Jugend, den Jüngling, die Jungfrau - von jener Zeit ab, da sie dem Unterrichte in Schule und Christenlehre entlassen worden - mehr im Auge, man schütze mehr den guten Samen gegen die bösen Einflüsse von außen, man pflege mehr die emporschießende Pflanze - die guten Gesinnungen und frommen Vorsätze -, man begieße sie zur Zeit der Dürre, richte sie auf, wenn Stürme sie wieder beugen, mit anderen Worten: Man rufe Fort-bildungsanstalten, christliche Vereine resp[ektive] Schulen für Jünglinge und Jungfrauen ins Leben, die da weiter bauen, wo Pfarrer und Lehrer aufhörten!

Aus diesem allgemeinen Ansatz heraus wird dann unter dem Aspekt der relevanten Rahmenbedingungen (s.u.) das oben zitierte Modell eines Gesellenvereins skizziert. Es ging hier - ganz allgemein formuliert - um den Zusammenschluß (Vereinigung) junger Männer, denen praktische Anregung und Hilfestellung geleistet werden sollte in ihrem Bemühen um ‚christliche Lebensführung‘, wie es mit Blick auf die aktuellen Zeitverhältnisse als zunehmend gefährdet eingeschätzt wird, und zwar gerade für die wandernden Handwerksburschen in ihrer besonderen Lebenssituation. Bereitschaft zu bzw. Interesse an einem derartigen Bemühen werden dabei allerdings als notwendige Voraussetzung verstanden.

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch Breuers grundsätzliche Hinweise zur Bildung, zu deren praktischer Umsetzung eben der geplante Verein dienen sollte; bemerkenswert auch deshalb, weil sie wichtige Parallelen zu entsprechenden späteren Gedanken Kolpings aufweisen: Bildung! Bildungsanstalten! Vereine! Wozu dieses?! mag hier wohl mancher sagen. Es ist mit der Bildung schon viel zu weit gekommen; sie macht das Übel nur größer, sie macht den Menschen mit sich und seinem Stande unzufrieden. Und gibt's nicht Schulen und Bildungsanstalten im Überfluß? Und Vereine! Wer möchte sie alle zählen! Obenhin betrachtet, scheint‘s wahr zu sein, doch man verstehe mich vorerst, und dann urteile man. Mit jener Bildung ist nicht eine aus bloßem Scheinwesen bestehende Bildung gemeint. Eine vornehme Rolle spielen, sich mit Feinheit und Takt bewegen lernen, kurz, jene Routine der großen Welt, damit hat die Bildung des Geistes und Herzens nichts zu schaffen. Durch diese Bildung soll der Jüngling, die Jungfrau, welchem Stande sie immerhin angehören mögen, die Arbeit erst recht liebgewinnen lernen, statt sie zu hassen, sie sollen durch sie erkennen, daß nicht die Stellung dem Menschen seinen wahren Wert verschafft, sondern die Tüchtigkeit, mit der er seine Stelle ausfüllt. Diese Bildung, die den Menschen zufrieden macht mit sich und seinem Stande, die ihn in seinem Stande vervollkommnet, die ihn zum vollen Bewußtsein seiner Bestimmung, seiner Rechte und Pflichten, zum würdigen Gebrauche seiner geistigen und leiblichen Kräfte führen soll, die ihn also lehrt, daß er sich selbst achte und sich zu vornehm halte, als daß er sich hingebe an sinnliche Lüste der Welt, die die Rechte des sinnlichen und geistigen Menschen ausgleicht und der Seele das innere schöne Gleichgewicht gebe in Handel und Wandel, die endlich - und das soll sie hauptsächlich - den Menschen feststehen macht auf religiösem Boden, die ihn die Tugend lieben lehrt, diese Bildung tut not.

Breuers weitere Ausführungen lassen erkennen, daß ihm eigentlich von den gegebenen Erfahrungen wie auch von den gesehenen Notwendigkeiten her die Idee tatsächlicher ‚Fortbildungsschulen‘ vorschwebte, hinsichtlich deren Realisierung er allerdings selbst erhebliche Probleme sah. Der vorgeschlagene Gesellenverein entsprach jedenfalls dieser Idee nicht; er stellt sich eher als pragmatischer Ansatz auf dem Hintergrund aktueller Rahmenbedingungen dar, wo es galt, wenigstens das möglich Scheinende in Angriff zu nehmen.

Die Sache ist an sich gut, darum muß sie gedeihen, wenn sie mit dem und in dessen Namen, der das Gute liebt und will und schirmt, begonnen wird. Wie soll aber die Sache begonnen werden? Als Antwort folge hier meine Absicht, wie in der hiesigen kath[olischen] Gemeinde eine solche Fortbildungsanstalt, und zwar zunächst für Jünglinge, hervorzurufen und einzurichten sei. Es wird jedoch die Einrichtung, wie ich sie vorschlagen möchte, nach dem Vorhergehenden nicht die ganz richtige sein, und dürfte sie aber nicht als Norm dienen, weil ich für unsere Gemeinde zunächst die vorliegenden Verhältnisse berücksichtige. Im Vorhergehenden redete ich den Anstalten das Wort, die den Unterricht der Jugend da fortsetzen sollten, wo die Elementarschule als solche das ihrige getan hat, die also die geistige und gemütlicher Bildung der Knaben und Mädchen etwa vom vollendeten vierzehnten Jahre ab, mit welchem Alter ja unleugbar die wichtigste Zeit für den Menschen beginnt, die nicht selten über sein ganzes Leben entscheidet und in der er am meisten der Aufsicht und Leitung bedarf, zum Zwecke haben sollten. Von diesen höchst nötigen Anstalten möchte ich für jetzt absehen mit dem Wunsche, daß bei so vielen Plänen, Einrichtungen und Verbesserungen, die der Staat und einzelne Korporationen für das Wohl des Volkes hervorrufen, auch an sie bald die Reihe kommen möge. Ich möchte vielmehr in unserer Gemeinde zunächst einen Gesellenverein eingerichtet sehen.

In seiner am 5.9.1847 gehaltenen Predigt über den katholischen Jünglingsverein, der ältesten überlieferten Aussage über den Gesellenverein überhaupt, hat Adolph Kolping den Kern der Vereinsidee im Sinne der Begründung einer zielgerichteten Vereinigung von Menschen eindringlich und plastisch zugleich dargelegt: Wenn ein einzelner Mensch durch ein reißendes Wasser waten will, wird er's nicht vermögen; greifen sich aber mehrere unter die Arme und bilden eine geschlossene Reihe, werden zusammen sie das tobende Element überwinden. Vereinigung macht stark, eine praktische Wahrheit, so alt wie die Welt, welche aber keine Einrichtung in der Welt so großartig und doch so einfach zur Anschauung bringt wie die katholische Kirche. Eine Vereinigung von jungen Männern also, denen es wahrhaft ernst wäre, ihre kostbare Jugendzeit vernünftig zu benutzen, sich von dem heillosen Treiben vieler anderen fernzuhalten, das empfangene Gute hier oder anderwärts zu bewahren und zu pflegen, denen es ernst wäre, gute Christen und tüchtige Bürger zu werden, ein Verein, geschlossen und gegründet, mitsammen rüstig und mutig, Gott und Tugend zum Wahlspruch, durch den Strom des Lebens zu wandern, Nützliches zu lernen, mit Anstand sich zu freuen, Gott zu dienen und in der Welt ehrenhaft und tüchtig dazustehen. Das wäre für diejenigen, deren guter Wille noch einer gesunden Tat fähig wäre, ein passendes, glückliches - wenn nicht das einzige - Mittel wider die vielfachen Klagen, die sonst über die Jugend ausgestoßen werden. Hätte sich dann einmal eine ordentliche Reihe im Arm, möchte diese auch noch manchen mit aufraffen und aus dem Verderben ziehen, den die Flut - ich meine die Verführung - bereits umgerissen und daherspült.

Kolpings Predigt reflektiert die etwa einjährige Entwicklung des Elberfelder Vereins und stellt in diesem Zusammenhang fest: Vereine müssen einem gefühlten Bedürfnisse abhelfen, und zwar keinem augenblicklichen, sondern einem bleibenden. Lag unserem Vereine ein Bedürfnis zugrunde, das allgemein gefühlt wurde, so mußte sich das bewähren und beweisen in der bleibenden Teilnahme, welche demselben zuteil ward, und gleichzeitig der Bestand für die Art und Weise bürgen, in der er sach- und zweckgemäß eingerichtet war. Das verflossene Jahr hat beides bewährt. Nunmehr, da wir bereits festen Boden unter den Füßen haben, dürfen wir Anerkennung fordern und zur Teilnahme auffordern.

Die schon skizzierte Vereinsidee Breuers (s.o.) wird von Kolping im Grundsatz unverändert zum Ausdruck gebracht. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß beide zitierte Texte in ähnlicher Weise den Begriff ‚Tüchtigkeit‘ verwenden, der ja in Kolpings Aussagen insgesamt eine zentrale Rolle spielt (s.u.). In übereinstimmender Weise kennzeichnen sie auch verschiedene grundlegende Elemente der (künftigen) Verbandsarbeit resp. des verbandlichen Selbstverständnisses, auf die noch verschiedentlich zurückzukommen sein wird: Dies gilt zum einen hinsichtlich der Voraussetzungen zum Mittun, nämlich der Bereitschaft und Fähigkeit zu einem ‚Sich-auf-einen-Weg-machen-Wollen‘; es gilt zum anderen hinsichtlich des Miteinanders von ‚weltlicher‘ (bürgerlicher) und ‚geistlicher‘ (religiöser) Grundlegung und Zielsetzung; es gilt schließlich hinsichtlich einer mit der Nennung des ‚tüchtigen Bürgers‘ angesprochenen Zielsetzung, die zumindest in grundsätzlicher Perspektive einen Impuls zu gesellschaftlicher Mitwirkung und Mitverantwortung beinhaltet.

 

1.3 Hinweise zur Zeit

An dieser Stelle sollen einige summarische Hinweise zu den damaligen Zeitverhältnissen eingeblendet werden, die zweifellos prägende Bedeutung für die Anfänge und den weiteren Weg des katholischen Gesellenvereins gehabt haben. Freilich kann dies nur eine knappe Skizze sein, die keinen Anspruch auf ‚Vollständigkeit‘ beinhaltet.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutet für weite Teile Europas eine Epoche des Umbruchs in fast allen Lebensbe-reichen des Menschen. Sie markiert die entscheidende Phase im Übergang von einer primär agrarisch geprägten, in Jahr-hunderten gewachsenen und kaum wesentlich veränderten ständischen Gesell-schaft zur Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts.

Im Gefolge der Französischen Revolution hatte sich die politische Landkarte Deutschlands drastisch verändert. Von den mehr als 400 souveränen Territorien des ‚Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation‘ (geistliche und weltliche Herrschaften sowie Reichsstädte) war - als Konsequenz von Säkularisation und Mediatisierung – gerade einmal der zehnte Teil übriggeblieben; 39 Staaten schlossen sich 1815 zum ‚Deutschen Bund‘ zusammen. Diese Staaten – vom Kaiserreich Österreich und den Königreichen Bayern, Hannover, Preußen, Sachsen und Württemberg über verschiedene Großherzogtümer und Herzogtümer bis hin zu kleinen Fürstentümern und den Hansestädten Bremen, Hamburg und Lübeck - sahen sich nun vor die keineswegs leichte Aufgabe gestellt, sehr unterschiedliche Landes-teile, unterschiedlich auch in konfessioneller Hinsicht, zu integrieren.

Dabei stießen traditionelle politische Systeme und Ordnungsvorstellungen (Absolutismus) zunehmend auf - mehr oder weniger radikale - Neuerungsbestrebungen. Bezeichnenden Ausdruck fand dieses Ringen um Verfassungen, politische Mitwirkungsmöglichkeiten und bürgerliche Freiheiten in den revolutionären Konflikten der Jahre 1848/49 mit der in der Frankfurter Paulskirche tagenden deutschen Nationalversammlung. In diesen Zusammenhang gehört - trotz vielfältiger gegenläufiger Bestrebungen (‚Reaktion‘ und ‚Restauration‘) vor und nach 1848 - die allmähliche Einführung bzw. Durchsetzung verschiedener sog. bürgerlicher Freiheiten, etwa von Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die letztlich Voraussetzung war für die rasche Entwicklung eines breit gefächerten Vereins- bzw. Verbandswesens. Die freie gesellschaftliche Vereinigung als organisierte Interessenvertretung von Menschen wurde jedenfalls nach und nach zu einem qualitativ neuen gesellschaftsprägenden Faktor von herausragender Bedeutung. Neben den verschiedensten Vereinigungen, auch im Bereich der katholischen Kirche, haben auch politische Parteien und Gewerkschaften hier ihre Wurzeln.

Vor allem im städtischen Bürgertum gewann in dieser Zeit der Liberalismus wachsende Bedeutung und zunehmenden Einfluß. Dieser aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erwachsene Liberalismus stellt mit seiner Tendenz zur Verabsolutierung des Individuums, mit seiner Fortschrittsgläubigkeit und mit sei-ner Verfechtung des freien Spiels der Kräfte in Gesellschaft und Wirtschaft eine entscheidende Triebfeder für den tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Wandel dar. Wichtig ist der Hinweis, daß er zu jener Zeit deutliche antireligiöse bzw. zumindest antikirchliche Tendenzen aufwies. Insgesamt kann jedenfalls für diesen Zeitraum von einem kontinuierlichen Rückgang des verhaltensprägenden Einflusses christlicher Wert- und Ordnungsvorstellungen gesprochen werden. Faktisch entstand dem Christentum im Liberalismus eine bisher ungekannte weltanschauliche Konkurrenz, später auch noch durch den aufstrebenden Sozialismus. Insofern markiert diese Zeit eine wichtige Phase des tiefgreifenden, auch in unseren Tagen noch nicht abgeschlossenen Säkularisierungsprozesses, wie er als ein Grund-element der neueren Geschichte überhaupt angesehen werden muß.

Die katholische Kirche in Deutschland befand sich im Zuge dieser Entwicklungen in einer schwierigen Situation. Im Gefolge der Französischen Revolution wurde sie ihres weltlichen Besitzes beraubt und zu einer tiefgreifenden Neuorganisation gezwungen; zugleich fand sie sich in zunehmendem Maße ideologischer Konkurrenz (Liberalismus) ausgesetzt, gepaart nicht selten mit staatlichen Eingriffen. In langwierigen Verhandlungen mit den Einzelstaaten des Deutschen Bundes mußten sowohl neue Rechtsgrundlagen für das Wirken der Kirche - unter Einschluß der weithin bis heute bestehenden territorialen Zuordnungen (Bistumsgrenzen) - gefunden als auch neue materielle Existenzgrundlagen geschaffen werden (Konkordate). Zugleich erlebte die Kirche aber trotz ihrer äußerlichen ‚Schwäche‘ einen ungeahnten inneren Aufschwung, kam es zu einer nachhaltigen Neubelebung und Intensivierung des kirchlichen Lebens in vielen Bereichen, nicht zuletzt hinsichtlich der Entwicklung verschiedenster, gerade auch von Laien geprägter Initiativen (Vereine und Verbände). Auch die katholische Kirche profitierte in diesem Zusammenhang von der Durchsetzung bürgerlicher Freiheiten!

Der primär von liberalem Denken geprägte tiefgreifende Wandel gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse hat entscheidend mit dazu beigetragen, daß sich in der katholischen Kirche insgesamt eine über viele Jahrzehnte hinweg wirksame ablehnende Haltung gegenüber vielen zeitgenössischen Tendenzen und Entwicklungen herausbildete (‚Anti-Modernismus‘), wie sie einen bezeichnenden Höhepunkt etwa 1864 mit der Enyklika ‚Quanta cura‘ und der ihr anhängenden ‚Zusammenstellung der hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit‘ (‚Syllabus errorum‘) fand. Zugleich müssen verstärkte Tendenzen einer ausgeprägten Zentralisierung für den Gesamtbereich des kirchlichen Lebens gesehen werden, während die weltliche Herrschaft des Papsttums (Kirchenstaat) im Zuge des italienischen Einigungsprozesses ein mehr oder weniger gewaltsames Ende fand. Auch in Deutschland entwickelte sich in diesem Kontext, gefördert noch durch das zumindest partiellen Erleben einer Minderheiten-Situation, eine stärkere Rom-Orientierung, die von der ‚Gegenseite‘ mit dem negativ gemeinten und verstandenen Begriff ‚Ultramontanismus‘ belegt wurde.

Der hier angesprochene Zeitraum erlebt zugleich die ersten Ansätze der Industria-lisierung, die - von England ausgehend - in der Folgezeit die Welt so nachhaltig wie selten zuvor verändern sollte, freilich begleitet von einer Fülle ungeahnter Probleme und Konflikte, wie sie zusammenfassend mit dem Begriff ‚soziale Frage‘ gekennzeichnet werden als einem der zentralen Themen des 19. Jahrhunderts schlechthin. Die Industrialisierung hatte sicherlich vielfältige Ursachen, u.a. ein außergewöhnliches Bevölkerungswachstum, das erst den Bedarf für massenhaft erzeugte Produkte schuf und zugleich ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften sicherstellte.

In jedem Falle hängt sie zusammen mit einer zunehmend dominierenden - in liberalem Denken grundgelegten - kapitalistischen ‚Wirtschaftsgesinnung‘, wo Arbei-ten und Wirtschaften nurmehr oder doch in erster Linie als Mittel zum Erwerb des Lebensunterhaltes bzw. zur Erlangung von Profit verstanden und entsprechend ausgerichtet wurden (bzw. verstanden und ausgerichtet werden mußten). Eben diese Einstellung, deren allmähliche Durchsetzung in allen Bereichen ein zentral bedeutsames Element der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts darstellt, trug wesentlich mit dazu bei, daß Arbeitswelt und privater Lebensbereich mehr und mehr auseinandertraten und daß sich menschliche Beziehungen in der Arbeitswelt auf ein einfaches Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern reduzierten, und dies für lange Zeit mit einer klaren Verteilung der Gewichte.

Auch und gerade das Handwerk war durch die Entwicklungen der Zeit stark betroffen. Die in vielen Bereichen erfolgte bzw. erfolgende Einführung der Gewerbefreiheit ließ die traditionellen Verhältnisse in diesem Gewerbezweig zerbrechen. Sie bedeutete das Ende des Zunftwesens, welches das Handwerksleben in den Jahrhunderten zuvor weitgehend geregelt hatte. Eine Folge war ein massiver Konkurrenzkampf, später noch verschärft durch die aufkommenden Industriebetriebe. Konsequenz war, daß viele Betriebe entweder nur kümmerlich existieren konnten oder ganz auf der Strecke blieben. Für die Beschäftigten in diesen Betrieben, Meister wie Gesellen, bedeutete dies dann häufig den Abstieg ins Industrieproletariat.

Mit dem Zerfall der traditionellen Ordnung des Handwerkes hörte es mehr und mehr auf, daß die Gesellen wie selbstverständlich zum Haushalt des Meisters gehörten. Viele Meister sahen in den Gesellen zunehmend nurmehr die bezahlte Arbeitskraft, um deren persönliche Situation sie sich nicht küm-mern mußten. Üblicherweise folgte in dieser Zeit der Lehre (Ausbildung) in einem Betrieb eine zeitlich unbe-fristete Gesellenzeit, die vor allem der beruflichen Weiterbildung diente. Diese Phase war durch die Wanderschaft geprägt, d.h. die Gesellen zogen von Ort zu Ort, um in den verschiedensten Werkstätten zu arbeiten und sich dabei diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die sie später in die Lage versetzen sollten, selbst als Meister einen eigenen Betrieb zu gründen. Die Gesellen waren nun außerhalb ihrer Arbeitszeit mehr und mehr auf Herbergen und Wirtshäuser angewiesen, wo sie Unterkunft fanden und ihre freie Zeit verbrachten. Eine solche Umgebung konnte sich für die personale und soziale Entwicklung dieser jungen Menschen nicht gerade förderlich auswirken. Die Entwicklung ging vielfach so weit, daß die Gesellen aufgrund der Unstetigkeit ihres Lebens (Wanderschaft) und der äußeren Bedingungen ihres Daseins zu einer ‚Randgruppe' der Gesellschaft wurden, gemieden von den etablierten Schichten der damaligen Gesellschaft. Zugleich waren oftmals wandernde Handwerksgesellen Träger und Multiplikatoren radikaler politischer Ideen.

Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß das Handwerk noch immer der bedeutendste Wirtschaftszweig war, wo die Zahl der Handwerker die der Industriearbeiter noch klar überstieg. Gerade in mittleren und kleinere Orten stellten die selbständigen Handwerksmeister ein tragendes Element des Mittel-standes dar; ihnen kam damit eine wichtige, nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Rolle und Bedeutung zu.

Die skizzierten Entwicklungen mit all ihren Chancen und Risiken für den Menschen sind nicht losgelöst zu sehen von einem außerordentlichen Fortschritt in den naturwissenschaftlichen Disziplinen und in der Umsetzung neuer Erkenntnisse, etwa im Bereich Landwirtschaft oder der Medizin. Entsprechendes gilt von tiefgreifenden technischen Neuerungen, die einen rascheren Austausch von Informationen und Meinungen ebenso ermöglichten wie eine größere Beweglichkeit des Menschen. In diesem Zusammenhang ist der Auf- und Ausbau des Eisenbahnwesens und der Beginn der Dampfschiffahrt ebenso zu nennen wie das Aufkommen der Telegraphie oder der Photographie und die rasche quantitative Ausbreitung des gedruckten Wortes, von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, ermöglicht durch neue Drucktechniken, zugleich begünstigt und gefördert durch gesellschaftliche Entwicklungen wie der wachsenden Meinungs- und Pressefreiheit oder der Einführung der allgemeinen Schulpflicht.

Ein bestimmendes Grundelement der Zeit sind zweifellos - und dies mit zunehmender Tendenz in den folgenden Jahrzehnten - Auflösung bzw. Verlust traditioneller Bindungen sozialer und weltanschaulicher Natur, Hand in Hand gehend mit einer Verstärkung von Mobilität und Pluralität in der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird offener in dem Sinne, daß der einzelne hinsichtlich seiner Per-sönlichkeitsentfaltung und Daseinsgestaltung nicht mehr so stark wie früher durch seine Herkunft festgelegt ist; die Gesellschaft wird mobiler in dem Sinne, daß der einzelne mehr als früher in die Lage versetzt bzw. auch gezwungen wird, Wohnort und Beschäftigungsart zu wechseln. Der einzelne wird zweifellos freier, auch hinsichtlich der vielfältigen traditionellen Formen sozialer Kontrolle; der Zerfall traditioneller Bindungen (z. B in der Großfamilie im ländlichen Bereich oder in der Zunft im städtischen Handwerk) bringt jedoch zugleich eine größere Unsicherheit für den einzelnen mit sich. Die festgefügte Ordnung früherer Zeit hatte dem Menschen eine umfassende Daseinssicherheit zu geben vermocht; losgelöst aus diesen Bindungen findet er sich nun mehr oder weniger hilflos den Problemen und Gefahren der Zeit ausgesetzt, gab es doch (noch) keines der heute vielfach selbstverständlichen sozialen Sicherungssysteme.

Korrespondierend zu den vielfältigen tiefgreifenden Wandlungsprozessen der Zeit erleben wir, speziell in dem vom Liberalismus geprägten Denken, eine qualitativ neue Einstellung gegenüber dem - ganz allgemein verstandenen - sozialen Wandel. Bestehende Verhältnisse werden immer weniger als ‚vorgegeben‘ und ‚unabänderlich‘ akzeptiert oder hingenommen, vielmehr erscheint gesellschaftliche und auch politische Wirklichkeit dem menschlichen Zugriff offen; die Realität wird als ‚machbar‘ verstanden, sie kann und darf durch entsprechendes Handeln gestaltet und verändert werden. Eben diese Grundhaltung erklärt das erstmals für diesen Zeitraum typische Auftreten beinahe unendlich vieler Neuerungsbestrebungen und -bewegungen mit ihrer inhaltlich wie konzeptionell entsprechend großen Spannbreite (Pluralität) und einer daraus mehr oder weniger zwangsläufig resultierenden Konkurrenz.

 

1.4 Der ‚Einstieg‘ Kolpings

In doppelter Hinsicht war Adolph Kolping an der frühen Entwicklungsphase des Gesellenvereins ‚beteiligt‘, auch wenn er nicht selbst der Gründer gewesen ist. Zum einen hat er als Angehöriger des Elberfelder Pfarrklerus die theoretische Grundlegung und die organisatorische Fassung des Vereins sicherlich beobachtet bzw. begleitet, zum anderen ist er frühzeitig - ab Dezember 1846 - mit Vorträgen im Gesellenverein in Erscheinung getreten, wobei ihm natürlich seine Herkunft aus dem Handwerk zugute kam. Breuer schreibt dazu: Kurze Zeit nachher [gemeint ist die Gründungsversammlung am 6.11.1846] erfuhr ich gelegentlich eines Besuches bei Kolping, der meine Denkschrift in den Händen hatte, daß und wie sehr auch er sich für die Sache des jungen Vereines interessiere. Vorher hatte ich hiervon keine Ahnung. Ich lud ihn zum Besuche des Vereines ein, und er sagte gern zu und kam. Bei diesem ersten Besuche, es war im Dezember 1846, offenbarte sich Kolping den Gesellen gegenüber als ihr früherer Standesgenosse, als weiland Sohn des ehrsamen Schusterhandwerks, was mir ebenfalls bis dahin unbekannt geblieben war ... Von da ab besuchte er den Verein regelmäßig jeden Montagabend und gewann durch seine kernigen Vorträge, je länger, je mehr die besondere Aufmerksamkeit und Zuneigung der Gesellen.

Nach dem Weggang von Kaplan Steenaerts wurde Kolping im Frühjahr 1847 zum Präses des katholischen Junggesellenvereins (Jünglingsvereins) gewählt, um dessen weitere Begründung und Bekanntmachung er sich intensiv bemühte und dessen Aus-brei-tung er sich fortan zur Lebensaufgabe machte. In einem Brief an den verehrten Münchener Lehrer Ignaz Döllinger vom 29.11.1848 heißt es: Nun bin ich aber von der Nützlichkeit, ja Notwendigkeit und Ausführbarkeit solcher Vereine überzeugt, ja, alle Tage wird mir die Sache lieber; was liegt da an den Hindernissen! Ich habe auf indirektem Wege meiner geist-lichen Behörde bereits den Vorschlag gemacht, mir, etwa in Köln, einen Platz zu schaffen - wenn ich nur die Notdurft hätte·_, wo ich Zeit und Muße hätte, mich der Vereinssache zu widmen. Zehn Jahre habe ich selbst in der Werkstätte gesessen, Gott hat mich wunderbar aus Ägypten geführt, jetzt habe ich wieder die Erfahrung von mehr wie zwei Jahren dazu, vielleicht hätte ich auch den Mut nicht umsonst. Ob man auf mein Anerbieten eingehen wird, weiß ich nicht. Verlaß' mich unbedingt auf Gott, wie der es macht, ist's gut. Jedenfalls könnten wir durch solche Vereine tief und nachhaltig ins Volk eingreifen, mit der Zeit und Gottes Hülfe sogar Großes wirken. Der Plan ist neu und eigentümlich, sagt man mir, aber daß er praktisch ist, erfahren wir hier alle Tage. Unser Verein ist bürgerlicher Art und wirkt wie eine Bruderschaft, greift das Leben von der äußern Seite auf und berücksichtigt nicht minder das religiöse Bedürfnis. Indem wir in dem Vereine mitten unter das Volk treten und durch die Tat beweisen, daß alle seine Angelegenheiten unserer Aufmerksamkeit wert sind, ziehen wir den uns halb abgewandten Teil desselben wieder an uns heran - die Herzen sind bald wieder unser. Ich brenne vor Verlangen, diesen Verein noch im ganzen katholischen Deutschland eingeführt zu sehen. Allerdings, die dazu nötigen Geistlichen müssen wir uns erst noch dafür erziehen, doch die Umstände sind günstig. Es tut mir leid, von mir reden zu müssen, aber wenn ich mit Ihnen, hochverehrter Lehrer, rede, ist's mir, als spräche ich mit einem Vater und Freund, der mich nicht mißverstehen könnte. Ich muß gestehen, seit dieser Vereinsplan bei mir zur Reife gekommen, bin ich erst über mich selbst recht klar geworden, ich möchte sagen, sind mir die Wege Gottes erst zur Deutung gekommen. Während meines Aufenthaltes in München und später trug ich mich insgeheim mit dem Gedanken herum, mich wissenschaftlichen Studien zu widmen, gewisse Disziplinen sagten mir besonders zu, und doch fand ich nie Gelegenheit, diesen Wünschen nachzukommen. Die hiesige Praxis ließ vollends keine Hoffnung mehr aufkommen. Wie von selbst da-gegen fand ich mich immer wieder unter dem Volke, aus dem mich Gottes Hand heraus-geführt. Seit ich in unserm Verein aber wieder mit dem Volke volkstümlich verkehre, ist die Lust an wis-sen-schaftlichen Studien gewichen, glaube ich gar zu bemerken, daß ich dazu im Grunde sehr wenig geeignet bin; dagegen aber finde ich mich in einer solchen Volksprofessur ganz in meinem Elemente. Ich glaube, es dürfte vielen so ergehen, wenn die Praxis sie erst über sich selbst aufklärte. Gewiß kein Schade. Wirken kann man hier wie dort mit gleichem Segen. Und in unserer Zeit, wo die soziale Frage sich mit der religiösen entschieden in den Vordergrund drängt, wo die Umstände uns gewissermaßen mit Gewalt ins Volk werfen, ist der Verein ein herrliches Mittel, an der Lösung obiger Fragen tätig zu arbeiten, uns zugleich als wahre Volksfreunde zu zeigen.

Dieser Brief ist im Übrigen das entscheidende Zeugnis für die von Kolping erst jetzt gesehene und dann auch angenommene Berufung zum Wirken im und für den Gesellenverein. Die in älteren Darstellungen beliebte Version, wonach Adolph Kolping einen bruchlosen und zielstrebigen Weg vom Gesellen zum Gesellenvater gegangen sei, wird gerade mit diesem Zeugnis nachdrücklich in das Reich der Legende verwiesen (s.o.).

Kolpings Hinweise zur aktuellen Bedeutung des Gesellenvereins, auch unter dem Aspekt von Chancen und Herausforderungen für Kirche und Klerus, können nicht losgelöst von den aktuellen Ereignissen gesehen und verstanden werden. Die Abfassung der Döllinger mit dem zitierten Brief übersandten Schrift ‚Der Gesellenverein‘ (s.u.) fällt zeitlich überein mit der Revolution von 1848, die ja auch durch mannigfache gewalttätige Auseinandersetzung zwischen radikalen Kräften und der Staatsmacht gekennzeichnet ist. In ihren Kontext gehören die Beratungen der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gehörten, an der auch Döllinger als gewähltes Mitglied teilnahm. Hier dominierten eindeutig liberale Tendenzen, mit denen sich Kolping - aus einer klaren Gegenposition heraus - ein Leben lang kämpferisch auseinandergesetzt hat. Zugleich traten gerade in diesen Jahren, und besonders auch im Wuppertal, immer deutlicher die negativen Folgewirkungen der beginnenden industriellen Revolution zutage, die unter dem Ansatz des Bemühens um ‚Abhilfe‘ vielfältigste Bestrebungen und Bewegungen mit sich brachten; dazu zählt auch ein ausdrücklich revolutionär orientierter Frühsozialismus, zu dessen Wegbereitern nicht zuletzt der aus Barmen, also der Nachbarstadt Elberfelds stammende Friedrich Engels gehörte. In diesem Zusammenhang sind nicht zuletzt krisenhafte wirtschaftliche Entwicklungen, gerade in den Jahren vor 1848 zu nennen mit massiven Auswirkungen auf das Handwerk, das ohnehin seit der Einführung einer weitgehenden Gewerbefreiheit in einem intensiven Prozeß der Neuorientierung und Neuordnung stand. Schließlich fällt in das Revolutionsjahr 1848 auch die erste ‚Generalversammlung des katholischen Vereins Deutschlands‘, d.h. der erste deutsche Katholikentag, Ausdruck eines wachsenden und auch politisch relevanten Selbstbewußtseins im deutschen Katholizismus und zugleich der Bereitschaft zur Nutzung neuer Möglichkeiten des organisierten Zusammenwirkens.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß unmittelbare aktuelle Erfahrungen, und zwar gerade in den spannungsgeladenen Jahren 1848/49, für Kolping die Bedeutung des Gesellenvereins im Sinne einer dringenden und wichtigen Chance und Herausforderung nachdrücklich unterstrichen und damit sicherlich nachdrücklich die Zielsetzung verstärkt haben, das ‚Werk‘ unter Nutzung günstiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, wie z.B. des Aufschwungs des Vereinswesens insgesamt, über Elberfeld hinaus auszubreiten.

Im Rückblick sagt Kolping zu den aktuellen Vorgängen: Aber das Gute hatte die scheinbar halb sinnlose Bewegung, dieses politische Erdbeben vom Jahr 1848, doch, daß es der katholischen Kirche und ihrem Leben und Streben eine größere Freiheit verschaffte. Die Gegner haben das eigentlich nicht gewollt, hatten sicher ganz anderes im Sinne, aber ‚der in der Höhe‘ benutzte sie zu seinen Zwecken. Von daher datiert erst recht jene Rührigkeit auf katholisch-kirchlichem Gebiet, die allenthalben in die sozialen Verhältnisse hinüberlief und ungeahnte Erfolge errang. Das katholische Vereinsleben hat in wenigen Jahren eine Ausdehnung und eine Wirksamkeit gewonnen, wie Deutschland kein zweites Beispiel aufzuweisen hat. Daß dieses Vereinsleben, das allmählich sich jedes wirklichen Bedürfnisses des Volkes zu bemächtigen sucht, um ihm nach Kräften abzuhelfen, dem wirklichen öffentlichen Wohl entschieden genutzt, muß jeder Unbefangene, der sich nur die Mühe geben will, es genauer kennenzulernen, ehrlich zugestehen.

 

1.5 Kolping und seine Zeit

In seinem umfangreichen Aufsatz ‚Ein Wort über Volksvereine und der Katholische Jünglingsverein zu Elberfeld‘ vom Beginn des Jahres 1848 hat sich Kolping erstmalig eingehend mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemlagen sowie mit entsprechenden Bestrebungen und Bewegungen auseinandergesetzt: In unserer Zeit regt und wegt es sich allenthalben, die Zeit der Ruhe, des Sich-Gehenlassens ist zu Ende, die Geister sind aufgestört und wollen sich zu tun machen und müssen es endlich. Man mag das beklagen und Gründe dazu haben, mag es freudig begrüßen und nicht eben im Unrecht sein, genug, es ist nun einmal eine Tatsache, die nicht kann und soll übersehen werden. Seine Auseinandersetzung mit den vielfältigen Reformbestrebungen führt im Kern zu folgendem Ergebnis: Daß man, indem man dem Volke zu Hilfe kommen, das Volksleben heben wollte, die Religion desselben entweder gar nicht beachtete oder sie, die geborene Königin der Herzen, möglichst dürftig mit anzog, ist gewiß der Grund, warum trotz so vielen und gewiß oft redlichen Bestrebungen bis dahin faktisch wenig oder gar nichts ist erzielt worden.

Vielen, auch zugestandenermaßen durchaus ‚redlichen‘ Bemühungen fehlt, so Kolping, der „rechte Geist“, der sich nicht allein mit irdischen Dingen zufrieden gibt. Dieser rechte Geist ist aber für ihn im Grundsatz gleichbedeutend mit dem Christentum; nach seiner Überzeugung konnten jedwede Bemühungen um eine - im weitesten Sinne verstandene - Sozialreform ohne klare religiöse, d.h. konkret christliche Grundlage nichts wirklich Substantielles im Sinne einer positiven Veränderung bewirken.

Folgerichtig wird dann das ‚Modell‘ des Katholischen Gesellenvereins als Kontrast vorgestellt, wo eben aufgrund der klaren religiösen Ausrichtung bzw. Fundierung der rechte Geist und damit auch die Chance zu erfolgreichem Wirken gesehen werden. Unter Bezugnahme auf Lebenssituation und -perspektiven der jungen Handwerker und Arbeiter heißt es zur Aufgabe bzw. Zielsetzung des Vereins: Wenn irgendein Teil des Volkes der Aufmerksamkeit wert ist, wenn irgendeiner noch der Bildung fähig ist und guten Willen dazu hat, dann ist es die anwachsende männliche Jugend. Und wenn irgendeiner der Verführung ausgesetzt ist, irgendeiner den Grund zu unabwendbarem geistigen und leiblichen Elende legt, dann ist es eben wieder die anwachsende männliche Jugend. Darunter gilt das letztere vorzugsweise der arbeitenden und dienenden Klasse in großen und volkreichen Städten - warum nicht gar in kleinen? - , wie diejenigen wissen, die berufen sind, sich mit dem Volke in allen Klassen der Gesellschaft zu bekümmern. Soll dem künftigen Elende vorgebeugt werden - das gegenwärtige bedarf anderer Hilfe - , dann müssen unsere jungen Handwerker und Arbeiter, die einst als Meister und Hausväter die große, breite Unterlage des Volkes bilden, vor dem gegenwärtigen Elende ihres Alters bewahrt werden, dann muß ihnen jetzt die Hand geboten werden zu geistigem und leiblichem Fortkommen, freundlich und ernst müssen sie an den Klippen vorübergeführt werden, an denen unsere Jugend gewöhnlich scheitert. Den anwachsenden jungen Handwerkern und Arbeitern gilt also zunächst der erziehende und fortbildende Verein, der unter dem Namen ‚Katholischer Jünglingsverein‘ bereits vor einem Jahre hier ins Leben getreten ist und von Tag zu Tag herrlicher aufblüht.

Was will also der Verein? Unsere Jünglinge sollen einst tüchtige, ehrenhafte Bürger und Familienväter werden, das Höchste, was sie nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zu erstreben haben. Wie wird das zu erreichen gesucht? Ein tüchtiger, ehrenhafter Familienvater muß einen gediegenen Charakter besitzen, und, um den zu erlangen, muß er ein aufrichtiger, tüchtiger Christ sein - wir sind nämlich noch gar nicht so weit, mit einem sogenannten ‚ehrlichen Mann‘ uns zu befriedigen, mag er vom Christentum halten, was er will -, und um ihn zu bewahren, soll er sein Fach, welches es auch immer sei, hinreichend und wohl verstehen und damit dem Posten Ehre machen, auf den die Vorsehung ihn gestellt hat. Vor allen Dingen soll er nicht über seinen Stand hinaus - ein Hauptübel unserer Zeit -, denselben aber auch ganz auszufüllen streben. Außer herzlicher, aufrichtiger Frömmigkeit muß Redlichkeit, Ordnungsliebe, Sparsamkeit und frischer, freudiger Mut zur Arbeit ins Hauswesen kommen, nun, dann muß der Mann sie hineintragen. Es ist das aber nicht möglich, wenn die beste und wichtigste Zeit des Lebens, die Junggesellen- und Gesellenzeit, nutzlos verschleudert wird, wenn diese Tugenden wahrer, bürgerlicher Häuslichkeit nicht angeregt und gepflegt werden. Solange Sonn- und Feiertage meist nur dazu dienen, den Arbeiter auszuspannen - wenn ihm das Ausspannen nur vergönnt wird - und ihn wie ein ausgeschirrtes Pferd hinaus auf die Weide sinnlicher Vergnügen zu treiben, damit er die paar freien Stunden in jeglicher Lust sich herumtummele und seinen sauer erworbenen Lohn auf eine höchst erbärmliche und gemeine Weise durchbringe, solange nach halbem Sonntage auch noch ein ganzer oder wenigstens ein halber Montag dazu dienen muß, die am Sonntage versäumte Ruhe und Lust nachzuholen - kurz, solange Sonn- und Montage die kostbare Kraft des jungen Arbeiters aufzehren, ist an ein künftiges, tüchtiges Hauswesen, an wahres Familienglück, der tiefste Seufzer unseres Volkes, nicht zu denken. Wir glauben es nun mal nimmer, daß der junge Mann, der in seiner frühen Jugend nicht Zucht und Ordnung gelernt, dann sie freiwillig geübt hat, in der Ehe wie auf einmal ein ganz anderer, ein besserer Mensch werde - Ausnahmen bestätigen die Regel -, vielmehr lehrt die tägliche Erfahrung, daß, nachdem die erste Neuheit des ungewohnten Verhältnisses vorüber, der junge Ehemann die alten Wege des Gesellen, wenigstens zum Teil, wieder aufnimmt und auf ihnen mit der Familie seinem schnellen Verderben entgegeneilt. Das Laster ist die Schuld am Volkselende. Gerade da, wo es der anwachsenden männlichen Jugend so naheliegt, mit dem Wege zum Vergnügen die Straße des Lasters zu betreten, soll sie durch den Verein aufgehalten und auf einen besseren Weg gelenkt werden. Deshalb ist in einem Schullokal, da es an anderen passenden Räumen fehlte, für Licht und Heizung gesorgt und jedem Jünglinge, wenn er das achtzehnte Jahr erreicht hat, freigestellt, gegen Erlegung einer kleinen Beitragszahlung zur Deckung der Kosten dort seine Sonn- und Montagabende zuzubringen. Statt sonst im Wirtshause oft bei schlechter Gesellschaft herumzusitzen, meist unnützes oder schlechtes Zeug zu treiben, statt dort und anderwärts sein Geld - und wie oft seinen Herzensfrieden, das ganze Lebensglück! - leichtsinnig aufs Spiel zu setzen, hat der junge Arbeiter nun Gelegenheit, in einem wohnlichen Lokal bei besserer Gesellschaft zu sitzen und seine freie Zeit auf eine bessere Weise zu benutzen und endlich zu vertreiben.

 

Wenig später hat Kolping in seinen ‚Briefen von der Wupper‘ eine eindringliche und eindrucksvolle Schilderung der bedrückenden Lebensverhältnisse der werktätigen Bevölkerung im Wuppertal im Prozeß der sich allmählich durchsetzenden Industrialisierung gegeben, die sich zugleich als differenzierte, auf simple Kausalzusammenhänge oder Schuldzuweisungen verzichtende Analyse darstellt. Sie gipfelt sozusagen in der Feststellung: Das Verhältnis der Menschen zu den irdischen Geschäften heutzutage läßt sich kurz in folgende Formel fassen: Das Geschäft (Industrie, Handel etc.) ist nicht um der Menschen willen, sondern die Menschen sind um des Geschäftes willen da, das Geschäft um des Gewinnes willen, Besitz oder Genuß das Höchste im Leben, der Mensch ein Knecht, der Erde untertan. Das ist die Quintessenz der ganzen Industrie, des gepriesenen Fortschritts, das die innere Wahrheit des sogenannten materiellen Volksglückes. Das ist zwar mehr oder minder allerwärts der Fall, tritt aber nirgends greller und handgreiflicher zutage als da, wo die Industrie herrscht.

Weiterhin heißt es hier mit Bezug zur aktuellen kapitalistischen Wirtschaftsweise: Aber das Volk selbst hat doch nun wieder die halbe Schuld. Zuerst ist die so oft gerühmte Gewerbefreiheit und das gar zu leichte Gestatten des Ansässigmachens ein Fehler von oben herab. Wenn man's jetzt noch nicht glauben will, wird's die nächste Zukunft noch besser lehren und werden es die Gemeinden bitter genug erfahren. Dann kommen aber auch noch andere Dinge. Jedenfalls trägt die Art und Weise, wie die Industrie betrieben wird, die Hauptschuld. ... Der Mensch ist wie die Maschine: Stockt die Arbeit, stehen beide still, sind beide abgenutzt, setzt man beide zur Seite oder wirft sie in die Rumpelkammer, wobei indes der Unterschied obwaltet, daß der Mensch leben will und leben muß; doch das scheint nicht in die Industrie zu gehören. Man braucht nur die Kraft, nicht die Person, weshalb auch nicht die mindeste Anhänglichkeit zwischen Herren und Knechte[n] zu finden ist. Du wirst mir einwerfen, es sei doch schlechterdings unmöglich für den Fabrikanten, unter heutigen Verhältnissen in genügender Weise für so große Massen von Arbeitern zu sorgen. Gerne zugestanden, aber das ändert die Sache um gar nichts. Die Arbeiter haben zur Arbeit gegriffen ohne Rücksicht auf Versorgung, keinem von beiden Teilen ist es eingefallen, über den täglichen Lohn hinaus noch etwas zu bedingen, allerdings, und eine Verletzung des äußeren Rechts ist nicht nachweisbar; hebt das aber jenen fast unmenschlichen Druck, der auf dem armen Volke lastet ? Wenn das niedere Volk blind und unbedacht dreingreift und sich auf das Leben des Tages nur verläßt, wenn das sich völlig unfähig erweist, seine Zukunft richtig abzuschätzen, gibt das den Einsichtigeren, Interessierten ein moralisches Recht, mit den Beschränkten zu handeln nach Belieben, die Unmündigen auszubeuten zu ihrem Nutzen, soweit das möglich ist, und sie dann wegzuwerfen? Aber die Fabrikanten können nicht, die Geschäfte wollen es so, erleiden es nicht anders. Gut, dafür bleibt auch unsere heutige Industrie ein Fluch der Menschheit, dafür ist auch dies Haschen und Jagen nach Reichtum materieller Despotismus für Herren und Knechte; dafür ist auch die Menschheit nur in einem Falle noch mehr, sonst nie schändlicher belogen worden und wird es noch alle Tage, als da man ihr weiszumachen suchte, der materielle Fortschritt unserer Zeit sei wahres Völkerglück und führe dasselbe notwendig herbei. Als ob dieser erstarrende Egoismus Glück bringen könnte.

Zusammenfassend läßt sich für die Sicht Kolpings festhalten: Die Vorrangstellung des Menschen gegenüber allen gesellschaftlichen ‚Einrichtungen‘ ist mit den aktuellen Entwicklungen ebenso im Schwinden begriffen bzw. bereits aufgegeben wie die Gemeinwohlverpflichtung im gesellschaftlichen und somit auch wirtschaftlichen Handeln: „Wir leiden im ganzen gar zu sehr an dem Mangel an Gemeingeist.“ Kolpings Ausführungen, die u.a. auch den „Mangel an Sicherstellung oder irgendwelche Versorgung des Fabrikarbeiters von Seiten des Fabrikherrn für die Zeit der Not und des Alters“ aufzeigen und deutliche Warnungen vor den möglichen Folgen aktueller Entwicklungen beinhalten, schließen mit einem bemerkenswerten P.S.: Dieser Brief war bereits geschrieben, bevor man die gegenwärtigen Eruptionen der angedeuteten Zustände auch nur so nahe ahnen konnte. Die Gewalt hat das Volk vor gröberen Exzessen behütet, wir freuen uns des[sen], doch sehen wir nicht ein, was damit auf die Dauer gewonnen ist. Man geht damit um, die Zustände der arbeitenden Klassen zu verbessern, allerlei Vorschläge kommen zutage, nur, nach meinem Bedünken, die rechten, die durchgreifenden nicht. So lasse ich dann den Brief ungeändert folgen, mir vorbehaltend, zur Zeit näher auf die Mittel einzugehen, welche allein helfen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach nimmt Kolping hier Bezug auf die geplante bzw. schon in Arbeit befindliche Schrift ‚Der Gesellenverein‘ (s.u.), mit der die Vereinsidee ja erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Eine grundsätzliche Feststellung aus dem Vorwort sollte in diesem Zusammenhang wiederholt werden: Für Konzeption und Entwicklung des Gesellenvereins insgesamt kommt den konkreten Einstellungen der handelnden Personen - und damit natürlich für die Anfangsphase gerade Adolph Kolpings - zu den aktuellen Fragen und Problemen von Mensch und Gesellschaft zentrale Bedeutung zu, ebenso ihren spezifischen Einschätzungen von Veränderungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten. Eben diese haben letztlich konkretes Wollen und Handeln in erster und entscheidender Linie geprägt, und zwar ganz unabhängig von ihrer ‚objektiven‘ Qualität!

Insgesamt bündelt sich jedenfalls die intensive Auseinandersetzung Kolpings mit der erlebten Wirklichkeit in der Überzeugung, daß der tiefste Grund für die aktuellen Nöte und Probleme und damit der Kern der eigentlichen sozialen Frage in der zunehmenden Abkehr der Menschen vom Christentum liege, daß das Ringen zwischen Christentum und Antichristentum um geistige Vorherr-schaft die Schicksalsfrage der Gegenwart sei und daß letztlich nur vom Christentum her Mög-lich-keiten gegeben seien, die bestehenden Verhältnisse wirklich dauerhaft zu verbessern.

Das menschliche Elend ist mit der Sünde in die Welt gekommen und hat sich mit ihr fortgepflanzt und vervielfältigt. Solange die Sünde in der Welt ist, so lange wird auch das aus ihr hervorgehende Elend da sein, was mit anderen Worten gesagt auch heißt: Solange dieses Menschengeschlecht lebt, wird's weder an Sündhaftigkeit noch an menschlichem Elend fehlen. Arme und Elendige haben wir immer unter uns. ... Nur bleibt das unumstößlich wahr: Je mehr Christentum, um so weniger Elend; denn das Elend ist nur da, weil die Menschen nicht bessere Christen sind. Das Christentum bewältigt das menschliche Elend mit seiner hingebenden Liebe, mit der Anwendung jener Liebe, welche den Himmel und die Erde versöhnt. ... Seit nämlich der Glaube schwächer geworden und die 'Auf-klärung' mit ihrer weichlichen Sentimentalität durch hohle Phrasen die ewigen Wahrheiten zu ersetzen trachtete, hat man zwar entsetzlich viel geschwätzt und geschrieben von 'allgemeiner Menschenliebe', sogenannter Humanität, von Fort-schritt, Bildung, allgemeinem Wohlsein und kommendem Völkerglück, von ‚Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung‘ der Menschen untereinander; aber in der wirklichen Welt ist nichts besser geworden, sondern gerade das Gegenteil von dem ist herausgekommen, was man prahlend verheißen hat. ... Die sogenannte Soziale Frage ist eingestandenermaßen die brennendste, heikelste und gefährlichste des ganzen Jahrhunderts, noch gefährlicher als selbst die orien-talische. Die Soziale Frage ist aber die Frage ums groß, ja übergroß gewordene Elend, und wir sagen konsequent dabei: um die groß, ja übergroß gewordene Sünde.

Einige weitere Aussagen Kolpings aus unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen sollen den skizzierten Ansatz als tatsächlich durchgängige Perspektive unterstreichen:

Das ist das große Unglück in der Welt, in allen verkehrt gewordenen Verhältnissen, daß die Menschen sich nicht um das kümmern, was Gott aus ihnen gemacht hat und wozu sie von Gott bestimmt sind, sondern alles richten wollen nach ihrem kranken Sinne, nach ihrer Klugheit, nach ihren verkehrten Herzens-wünschen. Deswegen geht alles quer, weil es immer aus seiner rechten, von Gott gesetzten Ordnung weicht.

Der allgemeine Zug der Gesellschaft fährt auf recht breiter Fahrstraße immer mehr aus der Übung des Christentums hinaus, das ist das Ergebnis der Trennung der Reli-gion von allen sogenannten bloß irdischen Fragen. Das ist die große allge-meine Ver-sündigung an der Gesellschaft, und diese Versündigung hat uns das große soziale Elend bereitet.

Wir sind offenbar in der Welt da angekommen, wo der Streit sich eigentlich doch nur darum dreht, ob die christliche Welt mit ihrer Wahrheit, ihrem Recht und ihren Pflich-ten soll gültig bleiben oder ob die unchristliche Welt Meister wird.

Nur die Rückkehr zum Christentum, nur die unbedingte Anerkennung der Herrschaft des väter-lichen Welterlösers kann wieder Ruhe, Ordnung, Freiheit und Zufriedenheit im Menschen und unter den Menschen erzeugen.

Auf unser tätiges Christentum kommt es an, ob die Welt zu christlicher Ordnung zu-rückkehrt. Nur dürfen wir dieses tätige Christentum nicht zwischen Kirchen-mauern und Krankenstuben allein oder in unseren nächsten häuslichen Kreis einschließen wollen, sondern wir müssen es frisch und wohlgemut ins bürgerliche Leben hinaustragen.

In der Konsequenz dieser Sicht, die ihm zugleich einen klaren Maßstab für die Beurteilung aktueller gesellschaftlicher Reformbestrebungen lieferte, konnte für Kolping - zumal im Lichte aktueller Erfahrungen - nicht der revolutionäre Umsturz als erfolgversprechend eingeordnet werden. Statt dessen mußte der Akzent eindeutig auf der ‚Gesinnungsreform‘ liegen; dies nicht im Sinne einer Ausschließlichkeit, wo es keinen Platz für irgendwelche Bemühungen im Bereich der sog. ‚Zuständereform‘ gegeben hätte, wohl aber im Sinne einer Vorrangigkeit. Kolpings grundlegende Einstellungen zu Mensch und Gesellschaft, die sich sicherlich nicht erst in Elberfeld herausgebildet haben und die gewiß auch nicht als nur für ihn typisch verstanden werden können, paßten zur Konzeption des Gesellenvereins, wie er ihn in Elberfeld entstehen sah und dann weiterentwickelte. Mit seinem vorrangig pädagogischen Bemühen und mit seiner gesellschaftlich durchaus wichtigen Zielgruppe konnte dieser Gesellenverein gut als ein gleichermaßen sinnvolles wie wirksames Instrument für den als notwendig erachteten sozialen Wandel verstanden und eingeordnet werden, für dessen Verbreitung sich jeder Einsatz lohnte.

Die frühzeitig erreichte eindeutige Orientierung auf die Zielgruppe der Handwerksgesellen - im Kontext einer grundlegenden, auf die ‚Hebung‘ des Handwerkerstandes insgesamt hingeordneten Zielrichtung (s.u.) - kann unter solchen Rücksichten nur als konsequenter Weg verstanden werden. Sie stellt sich als bewußte Konzentration der Kräfte unter klarer gesellschaftlicher Zielperspektive dar und bedeutet insofern eine nachdrückliche Konkretisierung bzw. Präzisierung des offeneren Ansatzes der Elberfelder Anfänge.