Kapitel 2 - Der Verband entsteht (1849-1851) – Teil 2

2.5 Verbreitung und Vertiefung der Vereinsidee

Kurz vor der Generalversammlung 1851 hat Adolph Kolping mit drei engagierten Reden beim Mainzer Katholikentag (‚Generalversammlung des katholischen Vereins Deutschlands‘) nachdrücklich für die Ausbreitung des Werkes geworben. Im Ergebnis konnte er sich durchaus der Hoffnung hingeben, ein erfolgreiches Signal gesetzt zu haben, denn der Katholikentag hatte immerhin folgenden Beschluß gefaßt: „Der katholische Verein Deutschlands wird nach Kräften die Verbreitung der Gesellenvereine fördern.“

Kolpings führt dazu aus: In Mainz ist auf der diesjährigen Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands auch der Gesellenverein resp[ektive] der Rheinische Gesellenbund zur Sprache gekommen. Wenn die kath[olischen] Vereine als solche auch die Gründung von Gesellenvereinen nicht füglich in die Hand nehmen können, so können sie doch da, wo sie bestehen, und dort, wo sich einer findet, der sich der Gründung unterziehen will, helfend und fördernd mitwirken. Der Gesellenbund ist eine legale Verbindung selbständiger Vereine von Gesellen, die lernen müssen, auf eigenen Füßen [zu] stehen, und deshalb auch keinen anderweitigen Vereinen abhängig sein dürfen. Das hindert indes nicht, daß auch anderweitige Kräfte zu ihren Gunsten tätig sind; stehen doch alle auf katholischem Boden, auf dem keine Engherzigkeit der Bestrebungen gedeiht. Wir freuen uns lediglich um der Sache willen, daß die Gesellensache die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung in so hohem Grade in Anspruch genommen hat, daß das Interesse an dem Handwerkerstande dadurch nur zugenommen haben kann. Wir erwarten davon, wenn auch augenblicklich nichts Großes, doch schon viel Gutes. Die Sache selbst ist angeregt und hat manches Herz für sich in allen deutschen Landen gewonnen. Ein Samenkorn ist ausgeworfen, das williges Erdreich gefunden und das unter der Pflege von Gottes Gnade schon zur Zeit keimen, Blüten und Früchte tragen wird. In Mainz selbst ist die Hoffnung sogar schnell aus dem Boden geschossen, muß aber noch lange in der Stille wachsen, bis sie stark genug sein wird, dem Sturme der Zeit zu trotzen. Nach Süddeutschland hinauf gehen des Herzens nächste Wünsche. Geduld, Mut und Ausdauer wird mit der Zeit das gute Werk weiter fördern. Wir fordern alle Freunde der Sache auf, mit uns zu beten und zu arbeiten, dann wird Gottes Segen nicht fehlen.

 

Zugleich hat Kolping seine Bemühungen fortgesetzt bzw. intensiviert, mit den ihm gegebenen publizistischen Mitteln nicht nur die Idee des Gesellenvereins weiter bekannt zu machen, sondern auch grundsätzliche wie praktische Fragen seiner Aufgabe und Arbeitsweise zu behandeln. Insbesondere ist hier die Artikelserie ‚Der Gesellenverein und seine Aufgabe‘ zu nennen, die in sieben Folgen im Vereinsorgan des Jahres 1850 erschien und die - sozusagen im Sinne einer Zwischenbilanz - eine erste grundlegende Zusammenfassung und Reflexion bisheriger Aktivitäten und Erfahrungen darstellt. Aus diesem bedeutsamen Text sollen im folgenden Abschnitt einige wesentliche Passagen wiedergegeben werden.

Zu Beginn des Jahres 1850 hatte Adolph Kolping, zunächst gemeinsam mit Christian Hermann Vosen, die Schriftleitung des wöchentlich erscheinenden Rheinischen Kirchenblattes übernommen, in dem er ja schon in der Elberfelder Zeit verschiedentlich Beiträge veröffentlicht hatte. Vom Oktober 1850 an führte er die Schriftleitung allein; seither erschien das Rheinische Kirchenblatt, tituliert als „Eine katholische Zeitschrift zur Belehrung und Erbauung“, „zum Besten des Gesellen-Vereins zu Köln.“ Zugleich gab Kolping eine speziell auf die Interessen und Belange des Gesellenvereins bezogene Beilage heraus, zunächst von 1850 bis 1851 unter dem Titel ‚Vereinsorgan‘, später von 1851 bis 1854 unter dem Titel ‚Feierstunde‘. Vereinsorgan und Feierstunde waren im eigentlichen Sinne Verbandsorgane mit den entsprechenden Beiträgen und Informationen zur Arbeit und Entwicklung des Werkes einschließlich aktueller ‚Vereinsnachrichten‘ (Neugründungen, Veranstaltungen, etc.). Zugleich aber beinhalteten sie immer auch sonstige Themen im relevanten Interessenspektrum der Leser, wobei schwerpunktmäßig die Bereiche Kirche, Familie und Arbeitswelt zu nennen sind. Entsprechendes gilt - eher noch deutlicher - für die Rheinischen Volksblätter (‚Rheinische Volksblätter für Haus, Familie und Handwerk‘), die Adolph Kolping 1854 begründete und deren Leserschaft weit über den Kreis der Mitglieder des Gesellenvereins hinausreichte.

 

2.6 ‚Der Gesellenverein und seine Aufgabe‘

Nach einer Schilderung der Entstehung des Elberfelder Vereins verknüpft Kolping in der genannten Schrift die Vereinsidee mit dem Familiengedanken: Die katholische Kirche ist im ausgezeichneten Sinne eine Familie; ... Aber auch jedes Sonderleben in ihr, das ihr angehört, aus ihr lebt, wird dadurch als ihr entsprossen sich ausweisen, wenn es in seinem Kern wie in seiner Entfaltung den Charakter des Familienlebens bewahrt und zutage legt. Daran erkennt man eine katholische Genossenschaft, daß sie Familie ist, und um so katholischer ist sie, als sie der Idee einer Familie am nächsten kommt oder sie annähernd erreicht. Der ‚Kath[olische] Jünglingsverein von Elberfeld‘ wurde wie eine Familie angesehen und in seiner Einrichtung behandelt. ... Sollte der Verein Familie sein und dem Gesellen die ferne Heimat ersetzen, dann richtete sich auch der Zweck des Vereins eben wieder auf das spätere Familienleben. Näher ausgesprochen, lautete dieser Zweck dahin, in und durch den Verein mit allen Kräften dahin zu wirken, aus den Mitgliedern jetzt tüchtige Gesellen, einst tüchtige Meister und Familienväter zu bilden. Das jetzige Familienleben des Vereins sollte die Vorbereitung auf das Familienleben jedes einzelnen sein. Das war und ist noch der Kerngedanke der ganzen Anstalt und soll es, will's Gott, auch bleiben. Aber dieser Gedanke umfaßt, wohl betrachtet, eben nichts weniger als das ganze Leben nach seiner geistigen und materiellen Seite.

In diesem Gedanken wird man sicherlich die wesentliche Grundlegung für das später ausformulierte Selbstverständnis des Verbandes als ‚familienhafte Gemeinschaft‘ sehen können; zugleich bestätigt er den weiter oben gegebenen Hinweis auf den ganzheitlichen Ansatz in der Verbandsarbeit.

Einer kurzen Schilderung des Alltags im Vereinsleben folgt nun die eingehende Beschäftigung mit der Situation im Handwerk, speziell des Gesellenstandes. Nachdrücklich weist Kolping auf seine gesellschaftliche Bedeutung hin: Was den Wert dieses Standes betrifft, so ist darüber zwar manches Beherzigenswerte gesagt und geschrieben worden; indessen dünkt mich, ist derselbe noch bei weitem nicht genug zu allgemeiner Anerkennung gekommen. Wo könnte es sonst möglich sein, daß man diesen Stand auf eine so unbegreifliche, völlig unverzeihliche Weise vernachlässigte und geradezu mißachtete, daß ganze Menschenleben vergingen, wo man für diesen Stand so gut wie gar nichts tat, daß man heutzutage noch nicht zu wissen scheint, wo man mit diesem Stande dran ist. Und doch ist es dieser Stand, der eine der wichtigsten Stellen im sozialen Leben einnimmt, der, aus der breitesten und kräftigsten Schicht der Gesellschaft hervorgehend, bestimmt ist, hinwieder die breite Unterlage des Volkes, der erste, feste Boden des Bürgertums auszumachen. Und doch ist es dieser Stand, in welchem, mehr wie in anderen, die reichste physische und moralische Kraft sich vorfindet, der Stand des schlichten Hausmannsverstandes, der Zähigkeit des Charakters, des Eifers für erkannte Wahrheiten und deshalb der Stand, worin Treue und Aufrichtigkeit, Religion und Tugend recht eigentlich zu Hause ist - leider muß man jetzt oft sagen, zu Hause sein soll. Das Schicksal des Handwerkerstandes ist das Schicksal des Bürgerstandes, wenn nicht immer heute, doch morgen. Mich dünkt, wenn wir nur aufmerksam um uns sehen, müssen wir das bald begreifen; denn aus ihm rekrutiert sich ebenmäßig der höhere Bürgerstand wie das verkommene Proletariat. Was es wert ist, wenn dieser Stand gesund und kräftig an Leib und Seele ist, dringt sich ohne langes Nachdenken jedem auf; was es schadet, wenn dieser Stand verkommt und entartet, hat uns die gegenwärtige Zeit so eindringlich gelehrt, daß wir Ursache und Wirkung davon nicht genug im Auge behalten können.

Folgerichtig schließt sich eine umfassende, zugleich plastische und drastische Beschreibung der Zustände des Handwerksburschenlebens an, aus der drei Erkenntnisse resp. Folgerungen abgeleitet werden, die ihrerseits als konstitutive Merkmale für die Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Gesellenvereins hervorgehoben werden. Zum einen ist dies die für den Gesellen zugleich unausweichliche wie lebenswichtige Erkenntnis, daß er allein die Verantwortung für sein Schicksal trägt, daß er es selbst ist, der sich „im Leben helfen und fortbringen“ muß. Zum zweiten ist es das gerade aus der ungebundenen Freiheit des Gesellenlebens erwachsende Bedürfnis nach Verbindung: „Das Isoliertsein, das Fürsichselbersein kann der Mensch nicht ertragen. Er will von Natur aus, er muß vermöge seines innersten Wesens sich an andere anschließen, damit aber naturnotwendig auf seine unbedingte Freiheit verzichten.“ Zum dritten schließlich ist es das weitgehende Fehlen von Möglichkeiten, sich die für das eigene berufliche und damit auch gesellschaftliche Fortkommen notwendigen Kenntnisse anzueignen.

‚Gemeinschaft‘ und ‚Bildung‘ sind also für Kolping die zentralen praktischen Aufgaben des Gesellenvereins, hier verstanden im Sinne dessen, was als Antwort auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Menschen anzubieten resp. zu leisten war, um der doppelten Intention sowohl der Hilfe für den Einzelnen als auch des angestrebten sozialen Wandels näherzukommen. Beides aber ist, um es noch einmal hervorzuheben, letztlich nur möglich, wenn die Betroffenen ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen gewillt und in der Lage sind.

Aus diesen Erkenntnissen, so Kolping, entstand erst eigentlich die Idee, den Gesellenverein über Elberfeld hinaus auszubreiten. Wenn und insoweit die genannten Bedürfnisse resp. Notwendigkeiten generell galten, konnte auch ein generelles Bemühen um ihre konsequente ‚Annahme‘ bzw. ‚Bearbeitung‘ Sinn machen. Die dargestellten Erkenntnisse waren in ihrer allgemeinen Geltung demnach „der Anlaß, einem Vereine über die Grenzen einer Pfarre Geltung zu verschaffen, der diesen Bedürfnissen entgegenkam und sie nach Möglichkeit deckte.“ Dabei wird wiederum der größere gesellschaftliche Zusammenhang und damit der angestrebte Beitrag des Gesellenvereins zum sozialen Wandel verdeutlicht: „Auf diesem Wege“ wäre es möglich, „für den Handwerksstand eine bessere Zukunft anzubahnen. ... Des Volkes Glück geruht auf persönlicher Tüchtigkeit, religiöser und bürgerlicher Tugend, seine Zukunft auf einer tüchtigen Jugend, sonst nirgends.“

Im Zuge einer knappen Schilderung der Anfänge des Kölner Vereins wird auch das Motto des Vereins vorgestellt: „Religion und Tugend - Arbeitsamkeit und Fleiß - Eintracht und Liebe - Heiterkeit und Scherz“; dann weist Kolping nachdrücklich, sicherlich vor allem an den Klerus gerichtet, auf die mit der Arbeit im Gesellenverein übernommene Pflicht und Verantwortung hin: Stellt ein solches Ergebnis, das in der Tat unsere kühnsten Hoffnungen übertraf, nicht wiederum erhöhtere Forderungen an uns, nun diesem Stande und seinem Wohl unsere tätigen Kräfte zu widmen, jede irgendwie willige und brauchbare Kraft für denselben zu gewinnen, selbst Opfer zu bringen und zu Opfern einzuladen? Eröffnet die Sache selbst nicht für uns - und für andere - eine Reihe von Pflichten, die wir unserem sozialen Elend gegenüber überhaupt haben, die sich aber nirgends einfacher und einleuchtender formulieren als eben in dem Verhältnisse, welches der Verein als Pflanzschule unserer künftigen Bürgerschaft zu uns allen hat? Ja, geradeaus gesagt, er fordert von uns - Teilnahme, Tätigkeit, geistige und materielle Unterstützung; er fordert von uns, was das Evangelium zu tun gebietet und dem wir uns mit gutem Gewissen nicht mehr entziehen können.

 

Im folgenden geht Kolping auf grundlegende Fragen der ‚inneren Einrichtung‘ des Vereins ein. Nach einer mit der geforderten Vertrautheit der Mitglieder untereinander begründeten Erläuterung der Altersgrenze von 18 Jahren werden einige, mit politischen Anspielungen versehene Hinweise über die anfängliche Experimentierphase hinsichtlich der Statuten eingeblendet: Nichts ist im gesellschaftlichen Leben unverständiger und heilloser als jene Gesetzesmacherei, die nach irgendeinem voreingenommenen Plan, nach einer individuellen Lebensanschauung, nach abstrakten Theorien, oft nach Grillen an den zerfahrenen Lebensverhältnissen modeln, richten, meistern und regieren will, nichts verderblicher als jene Wut zu reformieren, von der unsere Zeit, wie vielleicht keine ähnliche je dagewesen, wie besessen ist. Diese Krankheit der Zeit hat die allerdings kranken Zustände im öffentlichen Leben ungleich schlimmer gemacht, als sie wirklich waren, und scheint sie einer völlig verzweifelten Krisis entgegenzuführen. Wir werden totgemacht durch lauter Gesetze und Verordnungen, die sich wie Schmarotzerpflanzen um unser Leben und Weben bis in seine unbedeutendsten Regungen hinein schlingen und verketten, dadurch dem wirklichen Leben Luft und Licht rauben, es verkümmern und ersticken. ... Statt Gesetze zu machen, bevor die Sache lebte, haben wir die Sache ins Leben treten lassen, bevor wir die Gesetze machten, oder vielmehr: Bevor wir die in diesem Leben sich von selbst ergebenden Grundsätze als Gesetze aufstellten, bevor wir die Freiheit beschränkten, haben wir sie selbst eine gute Weile walten lassen, haben ihr Recht gefunden und ihr Übermaß erkannt. Wir haben die Geduld des Zuwartens gehabt. In Elberfeld vergingen zwei Jahre, bevor unsere Gebräuche zum Gesetz erhoben wurden, und in Köln wartete man nach der Stiftung des Vereins noch beiläufig ein ganzes Jahr, bevor wir das dort Bewährte auf die hiesigen Verhältnisse bleibend anwandten.

 

Nun folgen grundsätzliche und vielfach zitierte Aussagen zum Thema Autorität, die sich zweifellos vor allem auf Amt und Aufgabe des Präses beziehen: Autorität aber ist die erste und unerlässigste Macht in jedem gemeinsamen Leben. Auch kein Verein, und wäre das persönlichste Interesse auf seinen Schild geschrieben, kann ohne Autorität in seinem Innern, in seiner Vertretung auf die Dauer bestehen. Und wo die Autorität ist, da fordert sie Gehorsam von Rechts wegen und muß ihn fordern. Autorität und Gehorsam bedingen das Gedeihen jedes gemeinschaftlichen Lebens. Es kommt darauf an, wer Träger der Autorität ist, welcher Art die Autorität ist oder wie er sie erworben: Wer soll gehorchen, in welchen Dingen soll Gehorsam geleistet werden? Halte man die Zusammensetzung des Vereins nur recht im Auge, es wird sich ein natürliches Ergebnis herausstellen. Wer die Aufgabe des Vereins ganz oder teilweise in die Hände nimmt, muß ihr nicht bloß seine physischen und geistigen Kräfte, nicht bloß seinen Kopf widmen - das ist das Geringste -, sondern vor allem sein Herz, der muß mit einer wahren Liebe zur Sache seine diesfalls erkannte Pflicht ergreifen und erfüllen. Wer Menschen gewinnen will, muß das Herz zum Pfande einsetzen. ... Die rechte Liebe wird in der Treue erkannt, nicht nach ihren Verheißungen, sondern nach ihrem Wirken geschätzt. Diese sich aufopfernde Liebe zur Sache gewinnt, wie sie mehr und mehr erkannt wird, auch die Herzen anderer in immer stärkerem Maße, und je interesseloser sie sich hingibt, um so sicherer und dauernder werden ihre Eroberungen sein. Diese Liebe ist der Quell der Autorität, vor der sich das Herz um so williger beugt, als es eben nur Gutes von ihr zu erfahren hat. Ich weise nochmal an die Familie zurück und an die geheimnisvolle Macht, welche sie gestaltet, zusammenhält und regiert. Wer Autorität auf anderen Wegen erwerben, erschleichen, heimlich oder offen erzwingen will, hat die Natur des Menschen und das eigentliche Wesen der Autorität nie recht begriffen. Das Band der Liebe, das geheimnisvollste, aber stärkste, was es gibt, muß die Menschenherzen zusammenfügen und zusammen erhalten, da stärker, bestimmter, klarer, wo sie zu gemeinschaftlichen Zwecken sich zusammenfinden, oder sie halten überhaupt nicht zusammen. Diese Liebe muß die Autorität verdienen, im Schweiße des Angesichtes erwerben, oder es ist eine Schattenautorität, von der Not aufgerichtet, vom Zwang zusammengehalten, die über kurz oder lang ineinanderbricht, wahrlich des Aufrichtens auch nicht mehr wert. ... Wer den Menschen nicht zuerst geliebt, wahrhaft geliebt, hat kein Recht, das Herz anderer Menschen zu fordern; wer auf diesem Wege die Autorität nicht erwirbt oder die ihm vom Allordner im Himmel zugeteilte nicht auch dazu noch verdient, erhält oder behält sie nicht. Denn, ich sage es nochmal, die Autorität wurzelt in der Liebe.

Damit ist angegeben, wer im Vereine von Natur aus das Recht sich erworben, das notwendige Gesetz aus dem wirklichen Leben zu formulieren und, ist es einmal zu allgemeiner Zufriedenheit abgewogen, mit Ernst und Strenge zu handhaben. Die Autorität ist dazu lebendig da; denn die wirksame Liebe hat sie rechtmäßig geboren. Aber die Autorität fordert Gehorsam. Diese so natürliche Autorität braucht um den Gehorsam selten verlegen zu sein. Wer das Herz gibt, erhält leicht ein anderes dafür; wer das Herz des Menschen aber einmal besitzt, erhält den Kopf in den Kauf. Denn immer ist der Kopf dem Herzen dienstbar. Mit der Autorität im gesellschaftlichen Leben, ich meine natürlich nur mit der rechtmäßigen und rechten, ist der Gehorsam immer zugleich da; denn die Anerkennung der Autorität ist Gehorsam und der Gehorsam damit nichts anders als die tatsächliche Antwort auf die gebotene Liebe.

 

Kolpings Text schließt nach weitergehenden Überlegungen zu verschiedenen Themen, u.a. der ‚Freude im Vereinsleben‘, mit dem allgemeinen Appell zum Mittun „an der schönen Aufgabe unseres Vereins“, der wiederum mit weitreichender Zielperspektive als ein praktisches Mittel bezeichnet wird, wie man für einen der wichtigsten Stände der Bevölkerung in der Gegenwart schützend, bewahrend und fördernd, für seine glücklichere Zukunft vorsorgend wirken kann. ... In dem Handwerksstande ist korporatives Leben Grundbedingung seines Gedeihens. Wir bahnen dasselbe auf der unerläßlichsten Grundlage der Religion, der Moral, persönlicher Tüchtigkeit im betreffenden Gewerbe an. Ohne religiöse und bürgerliche Tüchtigkeit denke doch keiner an ein Zusammenhalten der Menschen überhaupt, weder im Großen noch im Kleinen. Hat der junge Mann aber in der Jugend den Nutzen und Segen des gemeinsamen Lebens erfahren, wird er im späteren Alter sich um so bereitwilliger dazu bequemen. Weiter wirkt das öffentliche Beispiel eines solchen Vereins auf der angegebenen Grundlage selbst auf diejenigen mehr oder minder ein, welche aus was für Gründen immer sich davon entfernt halten. Löbliches Streben erweckt immer Nacheiferung, oft da, wo man es am wenigsten vermutete.

Neben der schon behandelten Schrift ‚Der Gesellenverein‘ ist diese Publikation das zweite Grundsatzdokument Kolpings von vergleichbarer Bedeutung. Mit dem Hinweis, daß es der Geselle selbst ist (und sein muß), der die Verantwortung für sein Geschick trägt, der sich „im Leben helfen und fortbringen“ muß, wird nachdrücklich das für das Kolpingwerk bis heute konstitutive Prinzip der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ begründet bzw. untermauert: Die Mitglieder waren nicht ‚Objekt‘ eines bestimmten pädagogischen Bemühens, der Verein bot vielmehr ‚nur‘ die als sinnvoll resp. notwendig erachtete Hilfestellung für diejenigen, die sich selbst auf einen entsprechenden Weg machen wollten und konnten (s.u.).

Die zum Thema Autorität zitierten Ausführungen sind zweifellos entscheidend für das Verständnis der von Kolping dem Präses (Priester) im Verein und damit auch im Verband zugewiesenen Aufgabe und Position. Noch kamen dem Klerus sowohl ein hohes gesellschaftliches Ansehen als auch eine hohes Maß an Autorität zu, was ihn in der Sicht Kolpings zur verantwortlichen Leitung im Verband geradezu prädestinierte, und dies ausdrücklich in Verbindung mit der verschiedentlich betonten besonderen Verantwortung des Klerus für das ‚oft vernachlässigte‘ Volk; bedeutsam ist dies nicht zuletzt aber auch unter dem Aspekt der tatsächlichen Lebenssituation der Mitglieder mit ihren entsprechenden Kenntnissen und Fähigkeiten, wo schon eine ‚starke Hand‘ in der Leitung des Vereins als notwendig erachtet wurde. Aber: Nicht in erster Linie die bloße Amtsautorität sollte im Gesellenverein zählen, sondern vor allem die durch eigenes beispielhaftes Wirken erworbene persönliche Autorität. Der hohe Anspruch hinsichtlich des individuellen persönlichen Engagements korrespondiert quasi mit der entsprechend zugewiesenen und eigentlich dann erst wirklich verdienten Machtposition. Eben dies paßt sehr wohl zu dem vom Präses gezeichneten und von Kolping selbst sicherlich beispielhaft gelebten ‚Vater-Bild‘, auch unter dem Aspekt einer ohne zeitliche Befristung erfolgenden Wahl.

 

2.7 Gesellenverein und Kirche

Zum Selbstverständnis des katholischen Gesellenvereins läßt sich grundsätzlich, und zwar in heute üblicher Begrifflichkeit, festhalten, daß es sich um eine weltliche (bürgerliche) Einrichtung handelte und handeln sollte, um eine freie, auf der bürgerlichen Koalitionsfreiheit (Vereinigungsfreiheit) ruhende gesellschaftliche Vereinigung von Laien, allerdings mit eindeutiger religiöser und kirchlicher Fundierung und Orientierung sowie unter geistlicher Leitung und insofern mit einem ausdrücklichen Selbstverständnis als Teil von Kirche. Der „auf dem Boden der katholischen Kirche“ aufgebaute Verein, so Kolping, „ist indes keine Bruderschaft, obschon dem Vereine die Kirche nicht fremd ist. ... Der ganze Verein beruht nicht mal hauptsächlich auf kirchlichem, vielmehr auf weltlichem Boden, und doch wohnt Religion drin.“ An anderer Stelle formuliert Kolping: „Obschon der Verein in der angenommenen Form einen rein gesellschaftlichen, bürgerlichen Charakter an sich trug und in seiner Wirksamkeit das bürgerliche Leben im Auge behielt, zeigte sich doch schon in seinen Anfängen wie in seiner späteren Fortentwicklung, aus welchem Boden er eigentlich erwachsen war und wem er seinem Kern und Geiste nach angehörte.“

Mit dieser Konzeption und mit dem ihr zugrundeliegenden, letztlich bis in die Gegenwart hinein aktuellen Selbstverständnis eines in der Kirche beheimateten, aber auf freier Initiative von Laien beruhenden Verbandes haben Breuer und Kolping de facto eine sowohl grundsätzliche wie auch pragmatische Weichenstellung vorgenommen. Für den ersten Aspekt gilt weithin eine mehr oder weniger entsprechende Praxis im katholischen Deutschland im Kontext des Aufblühens einer weit verzweigten Vereinsbewegung. Für den zweiten Aspekt ist vor allem darauf hinzuweisen, daß das Bemühen um junge Menschen in einer nicht unproblematischen Lebenssituation angesichts der Zeitverhältnisse zunächst deren gesellschaftliche Interessen und Bedürfnisse aufgreifen und angehen mußte. Der Gesellenverein wollte und mußte sich, so Kolping, zuerst und zunächst „der gesellschaftlichen Ordnung“ zuwenden, also „vorherrschend sozial“ sein. Eben dieses Bemühen konnte aber in der Ansprache der Zielgruppe wohl eher gelingen, wenn sich der Verein nach außen als freier und freiwilliger Zusammenschluß ohne besondere religiöse bzw. kirchliche Verpflichtungen und Bindungen darstellte. „Der Verein soll nach außen keinen kirchlichen Charakter tragen, vielmehr einen bürgerlichen, um den herumschweifenden, verkommenen Burschen den Eintritt leichter zu machen.“

Spätere Entwicklungen, vor allem die seit 1858 mit der Installierung der Diözesanverbände erfolgende feste Einbindung des Werkes in kirchliche Strukturen, haben dieses Selbstverständnis nicht grundsätzlich verändert, auch wenn der katholische Gesellenverein damit einen deutlicheren kirchlichen Charakter bekam. Mit dieser Neuerung, so Kolping, werde die tatsächlich bestehende kirchliche Bindung nur äußerlich sichtbarer zum Ausdruck gebracht: Weil nun aber die Vereine sich in genannter Weise ausgedehnt haben, haben wir in diesen Tagen Rat gepflogen, ob wir das ganze Werk nicht praktischer organisieren könnten. Es hat sich ergeben, daß wir wohl nichts Besseres tun können, als uns recht fröhlich an die Kirche an[zu]schließen. Doch das könnte man mißverstehen. Wir sind ja katholisch, das Werk heißt ‚Katholischer Gesellenverein‘, die Mitglieder sind katholisch, und die es nicht zu sein meinen, sind es oft mehr, als sie selbst wissen. Nein, das Werk soll nicht inniger erst an die Kirche geschlossen werden dem Geiste nach, sondern nur der äußeren Ordnung nach. Entsprechendes gilt auch für die schon (zeitlich) früher satzungsmäßig festgelegte Bestätigung der Präsides durch die zuständige kirchliche Behörde.

1869 schrieb Kolpings Nachfolger Schäffer, der Gesellenverein sei keine kirchliche Bruderschaft, „er soll vielmehr seinem Wesen nach das bleiben, was Kolping in ihm sah und mit ihm wollte, nämlich ein bürgerlicher Verein, eine Genossenschaft, in welcher alle bürgerlichen Tugenden in Haus, Familie und Werkstatt zur Ausübung kommen.“ Ein Indiz für dieses durchgängige Selbstverständnis ist auch die Tatsache, daß für die Statuten des Verbandes zu keinem Zeitpunkt eine Genehmigung seitens der zuständigen kirchlichen Instanzen eingeholt resp. als notwendig erachtet wurde. Allerdings muß in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont werden, daß heute übliche Begrifflichkeiten und entsprechende Differenzierungen hinsichtlich des Selbstverständnisses und des kirchlichen Charakters von Organisationen, speziell auf der Grundlage des Kirchenrechts (CIC) und seiner entsprechenden (regionalen) Umsetzungen, zur Zeit Kolpings in keiner vergleichbaren Weise vorhanden bzw. relevant waren. Tatsächlich ist ja erstmals 1917 mit der Einführung des Codex Juris Canonici der „Versuch einer umfassenden und systematischen Darstellung des katholischen Vereinsrechts“ unternommen worden. Die entsprechend vorhandene ‚Unschärfe‘ wird - zu einem deutlich späteren Zeitpunkt - exemplarisch im Bericht zur Münsteraner Diözesanversammlung des Jahres 1894 deutlich, wo es heißt: „Der Vorsitzende erklärt gewissen Vorkommnissen gegenüber, daß der hochwürdigste Bischof den katholischen Gesellenverein insofern zu den kirchlichen Vereinen rechne, da bei Leichenbegängnissen das Kreuz dem Verein vorangetragen werden solle. Der Verein sei doch etwas mehr als ein rein weltlicher Turn- der Gesangverein, wenngleich er keinesfalls zu den rein kirchlichen Vereinen, wie die Sodalität u.a., gehöre.“

Für die örtliche Ebene ergibt sich ein differenzierteres Bild; mindestens in einzelnen Fällen sind lokale Statuten dem Ortsbischof zur Genehmigung vorgelegt worden. Das verfügbare Quellenmaterial läßt allerdings eine umfassende Darstellung resp. Einschätzung dieser komplexen Materie nicht zu.

Mit der skizzierten Standortbestimmung wurde freilich in Kauf genommen, daß sich Verband und Vereine als eben nicht im unmittelbaren Sinne kirchliche Einrichtungen mehr oder weniger bedingungslos in die relevanten politischen Rahmenbedingungen einfügen mußten und damit auch den bestehenden vereinsrechtlichen Gegebenheiten und Bedingtheiten einschließlich der entsprechenden staatlichen Beaufsichtigung unterlagen. Daß dies durchaus Probleme mit sich bringen konnte und im Laufe der Verbandsgeschichte verschiedentlich auch mit sich gebracht hat, wird noch zu zeigen sein.

Daß und warum Adolph Kolping der verantwortlichen Mitarbeit des Klerus und damit dem Amt des Präses im Gesellenverein so hohe Bedeutung zugemessen hat, ergibt sich aus seinen zahlreichen diesbezüglichen Äußerungen. Erstmalig hat er sich grundsätzlich zu dieser besonderen Rolle der Geistlichkeit in seiner Schrift ‚Der Gesellenverein‘ geäußert: Und wer soll dann der Sache sich besonders annehmen? Kein anderer als, wie schon gesagt, der Klerus, der aus dem Volke stammt und nun einmal von Gottes und Rechts wegen den Beruf hat, wie das Christentum auszubreiten in der Welt, mit demselben auch das Volk erziehend ganz zu durchdringen. Auch kennt der Klerus das Volk am besten, soll es wenigstens kennen, er ist persönlich unabhängiger als irgendein anderer Stand und kann sich deshalb seinem Amte auch mit einer persönlichen Hingebung und Aufopferung widmen wie kein anderer. Ja, der Geistliche ist der geborene Volkserzieher, er kann und soll auf dies wichtigste aller möglichen Ämter nicht verzichten. Ihm kommt deshalb auch das Volk da, wo er sich ihm nur nähert, mit seltenem Vertrauen entgegen, und übt er mit sorgender Liebe sein Amt, stehen ihm aber Herzen offen. Wenn das Volk sich aber vernachlässigt, ungeliebt sieht, nun, dann wendet es auch sein Herz ab, nicht ohne einen gewissen Groll dem nachzutragen, von dem es so gern geliebt wäre. .... Wir sind bei einem Zeitpunkte indes angekommen, wo wir alle allenfallsige Schuld beim Volke austilgen müssen, alte Scharten auswetzen, altes, uns zugehöriges Terrain wieder erobern, soll nicht bald Gericht über uns gehalten werden. Lautere, hingebende, alle Verhältnisse umfassende und durchdringende Liebe muß wieder zu Felde ziehen, sie wird die Welt erobern. In unserem Falle kann und muß ich deshalb an den Klerus weisen. Er wird dem Unternehmen Halt und Würde geben, er wird für ihre Dauer wie für ihr Gedeihen bürgen, wie andererseits er am leichtesten die Idee rein bewahren und schädliche Auswüchse verhindern kann.

An anderer Stelle heißt es: Die Kirche kann und darf sich von der Sozialen Frage nicht zurückziehen, sie darf das bürgerliche Leben ihren geborenen oder geschworenen Feinden nicht allein überlassen, sie muß ins Leben hineintreten und den Kampf mit ihren Widersachern nicht scheuen. Die Kirche aber wird repräsentiert durch ihre Priester, und darum lag nichts näher und war nichts notwendiger, als den Gesellenverein in die Hände der Geistlichkeit zu legen. Je näher diese Geistlichkeit dem Volke und dem Volksleben steht, um so eher ist sie geeignet, berufen, unter Umständen innerlich verpflichtet, die Sache des Vereins als die ihrige anzusehen und anzunehmen. Damit ist der Verein direkt auf kirchlichen Boden gezogen, auch wenn in seiner Wirksamkeit er vielfach noch so weltlich aussehen mag; aber damit ist auch die Kirche, näher das Priestertum, an den Verein verpflichtet. Eines bedingt naturgemäß das andere. Welch eine Gelegenheit, die Religion ins Leben hineinzuführen! Wie viele Mittel und Wege, nach allen Seiten hinaus für das soziale Leben heilsam und fruchtbringend zu wirken!

Wie aber der Geistliche als Präses den Verein als seine weniger persönliche als Berufssache ansieht und in sein Herz aufnimmt, ihm sich, soviel seine sonstigen Berufsarbeiten und Kräfte nur erlauben, geradezu widmet, verdient und erhält er den Namen des 'Vaters' im Vereine. Das ist gerade die Hauptsache, daß das arbeitende Volk wieder 'Väter' höherer Ordnung kennen, lieben und verehren lernt. Wer sich im Verein nicht wie ein Vater unter seine ihm von Gott anvertrauten Söhne gesteht weiß, wer den Verein nicht gleichsam wie seine Familie lieb hat und dafür besorgt ist, und zwar nicht um äußerer Dinge, sondern um Gottes willen, der soll nicht Präses sein, weil er es nicht wirklich von Herzen, nicht Präses‑Vater ist. Erst als wirklicher Präses kann und darf er den ersten Einfluß im Vereine in Anspruch nehmen, jene Autorität, der sich willig jedes untergebene Herz unterwirft, weil sie aus der Liebe geboren ist und also auch Liebe erzeugt. ... Wer das rechte Herz für die Sache hat, lernt gern, was der Sache dient, opfert gern, was die Sache fördert; denn das Herz wird von der Liebe regiert, und die Liebe zur Sache ist der beste Lehrmeister und die sublimste Regierungskunst.

Allerdings: Das Präses-Amt ist schon Bestandteil des ersten Statutenentwurfs von J.G. Breuer. Hier ist wohl davon auszugehen, daß Breuer aus seinem gemeindeorientierten Ansatz und Erfahrungsraum heraus die entscheidende Bedeutung des Klerus für eine auf Dauer angelegte Vereinsarbeit im kirchlichen Raum weder ‚übersehen‘ noch ‚übergehen‘ konnte und wollte. Der Begriff Präses - in der Übersetzung aus dem Lateinischen ja nichts anderes als Vorsitzender - war bzw. wurde im Übrigen in dieser Zeit durchaus geläufig für die weithin, wenngleich nicht ausschließlich durch Geistliche wahrgenommene Leitung von in einem kirchlichen Kontext entstehenden Vereinen, und zwar zunächst auf evangelischer Seite.