Josef Laumann
Bundesvorsitzender der CDA
Wenn von der katholischen Soziallehre und der christlich-sozialen Idee die Rede ist, denken die meisten an Papst Leo XIII. Doch seine Enzyklika „Rerum Novarum“ stand 1891 am Ende einer Entwicklung, die fast 50 Jahre vorher begonnen hatte: mit dem Wirken von Adolph Kolping.·
Das Papst-Schreiben hatte nämlich einen geistigen Ursprung in den Stuben der Gesellenhäuser: Der Grundstein von „Rerum Novarum“ wurde nicht in Rom, sondern in Elberfeld und Köln gelegt. Denn Kolping prägte den Blick des Mainzer „Arbeiterbischofs“ Wilhelm von Ketteler auf die „Soziale Frage“. Dessen Forderung nach staatlicher Sozialpolitik mündete schließlich in „Rerum Novarum“. Die Enzyklika basierte also auf einer Theologie, die ohne das Handeln Kolpings so kaum denkbar wäre. Grund genug, an den seligen Gesellenvater zu erinnern: Wie hat er die christlich-soziale Idee geprägt? Was davon wirkt heute noch, was ist in Vergessenheit geraten?
Die Gesellenherberge als „Vaterhaus in der Fremde“
„Tüchtige Bürger gedeihen nur in einem tüchtigen Familienleben“: Auf diese Formel hat es Kolping einmal gebracht. Die Gesellen auf der Walz waren oft vereinsamt; viele hatten keine Familienbindung mehr, einige nie eine gehabt. Kolping gab ihnen Heimat: Ein Gesellenhaus sollte „Vaterhaus in der Fremde“, der Verein wie eine Familie sein, die Gemeinschaft stiftet und Halt schenkt
Fest im Leben durch festen Glauben
Menschen brauchen Bindungen: Diese Überzeugung münzte Kolping auch auf den Glauben. Er hatte bei den Gesellen erlebt, wie Armut und Alleinsein den Geist verwahrlosen lassen. Dem sollten sie mit ihrem Glauben trotzen. Für Kolping war Religion mehr als Suche nach seelischer Geborgenheit, ihm ging es auch um Lebenstüchtigkeit: „Ohne ein kräftiges Christentum ist kein kräftiger Halt im Leben“. Und: „Das Christentum ist nicht bloß für die Kirche und für die Betkammern, sondern für das ganze Leben. Es gibt keinen Punkt, keine Seite, kein einziges Verhältnis des Lebens, welches nicht nach den Grundsätzen des Christentums gerichtet und behandelt werden soll.“ Dachte er bei diesen Worten auch an Politik?
Kolpings Kampf gegen die -Gewerbefreiheit
„Christ sein heißt politisch sein“: So lautet der Titel eines Buches von Kardinal Reinhard Marx über Ketteler. Doch Kolping hielt sich mit politischen Aussagen eher zurück. Die Ausnahme war der Konflikt um die Gewerbefreiheit. Wirtschaftliche Umwälzungen bestimmten das 19. Jahrhundert. Die Zünfte verloren an Bedeutung, weil sich die Gewerbefreiheit auch in deutschen Landen durchsetzte. Die Industrialisierung zwang die Handwerker in die Fabriken, der Zusammenhalt schwand. Kolping kämpfte dafür, die Gewerbefreiheit wieder aufzuheben.
Der Markt braucht Ordnung
Sein Kampf für eine Gewerbeordnung hat bedrückende Aktualität. Denn wie der Liberalismus damals wollte der Neo-Liberalismus unserer Tage die Wirtschaftswelt von Barrieren „befreien“ – und hat viele ins Elend gestürzt. Unsere Soziale Marktwirtschaft kennt drei wichtige Ordnungsrahmen: die Handwerksordnung, Regeln zu Zulassung und Gebühren bei freien Berufen, Tarifautonomie der Sozialpartner. Die Neoliberalen haben sie infrage gestellt. Aber heute wie damals brauchen wir Regeln für den Markt, eine Ordnung. Denn die freie Marktwirtschaft öffnet Tür und Tor für Ausbeutung und soziale Unsicherheit.
Auch heute gibt es „Lohnsklaven“ und Ausbeutung
Natürlich haben wir nicht mehr Lebensverhältnisse wie vor 150 Jahren. Aber die Würde der Arbeit steht auch heute auf dem Spiel. Ich denke an die rumänischen „Lohnsklaven“ in der Fleischindustrie, die als Scheinselbständige mit Werkverträgen für einen Hungerlohn im Akkord Schweine schlachten. Wie die Gesellen vor Kolpings Hilfe sind sie menschenunwürdig untergebracht, fern ihrer Heimat, ohne Bindungen. Was würde Kolping sagen, wenn er sie im Schlachthof sähe? Kolpingfamilien im Oldenburger Münsterland und anderswo gehen zu Recht gemeinsam mit Parteien und Gewerkschaften auf die Barrikaden: Im Januar bin ich bei einer solchen Demo in West-eremstek dabei gewesen.·
Das Ur-Thema der Christlich-Sozialen: Die Würde der Arbeit
Die Würde der Arbeit und der arbeitenden Menschen: Das ist das Ur-Thema christlich-sozialer Ethik. Damals wie heute gilt: Gerade Erwerbsarbeit schafft Lebensperspektiven, macht Bindungen möglich, sichert das tägliche Brot. Die Christlich-Sozialen von heute kämpfen für einen tariflichen Mindestlohn, weniger Befristungen und gute Arbeitsbedingungen. Kolpings Gesellen hatten oft keine Arbeit, wurden kaum oder gar nicht bezahlt. In „Rerum Novarum“ verurteilt Papst Leo ihre Ausbeutung: „Im allgemeinen ist in Bezug auf den Lohn wohl zu beachten, daß es wider göttliches und menschliches Gesetz geht, Notleidende zu drücken und auszubeuten um des eigenen Vorteils willen. Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit“. Sein Urteil dürfte heute mit Blick auf die 1,4 Millionen Beschäftigen, die in unserem Land weniger als fünf Euro pro Stunde verdienen, kaum anders ausfallen.
Die CDU: Die Partei der Christlich-Sozialen?
Die christlich-soziale Idee ist ein guter Maßstab für Politik: Immer dann, wenn die katholische Soziallehre den Kurs bestimmte, ging es den Menschen gut. Das beste Beispiel ist die Nachkriegszeit in der Bundesrepublik. In einer wegweisenden Rede hat der spätere Kanzler und CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer im März 1946 erläutert, auf welche Basis die Union ihre Politik stellen wolle: „Der Fundamentalsatz des Programms der CDU (…) ist ein Kerngedanke der christlichen Ethik: Die menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzelnen Menschen ist unersetzlich. (…) Nach dieser Auffassung ist weder der Staat, noch die Wirtschaft, noch die Kultur Selbstzweck; sie haben eine dienende Funktion gegenüber der Person.“ Staat und Wirtschaft haben dem Menschen zu dienen, nicht umgekehrt: Auf diesen christdemokratischen Kern wurde die Soziale Marktwirtschaft gebaut – und ihr Ordnungsrahmen (1953 zum Beispiel eine Handwerksordnung). Von dieser Substanz lebt unsere Gesellschaft bis heute. Kein Wunder, dass der Parteienforscher Franz Walter urteilt: „In der Regel wird angenommen, dass die Sozialdemokraten Schöpfer unseres Sozialstaats waren und die CDU/CSU dessen Gegner. Es ist eher umgekehrt. Der deutsche Sozialstaat ist in erster Linie katholisch geprägt.“·
Adolph Kolping: Ein Vorbild für alle Christlich-Sozialen
Die CDU hat kein Exklusiv-Recht auf die christlich-soziale Idee. Aber politisch organisiert sind die Christlich-Sozialen nur in der Union, in der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Wir sind eine starke Stimme in unserer Partei – doch wir haben zu kämpfen. Wir werden weniger, spüren die Entchristlichung unserer Gesellschaft. Besonders schmerzt mich, dass die Bindungen in die katholischen Verbände vielerorts lose sind, manchmal sogar abgerissen. Dann tut es gut, sich an unser gemeinsames Erbe zu erinnern. Adolph Kolping steht dafür wie kein anderer. In seinem Wirken finden sich Spuren aller drei Leitgedanken der katholischen Soziallehre: Personalität, Solidarität, Subsidiarität:
• Personalität heißt: Jeder Mensch hat eine Würde, die unantastbar ist. Kolping hat den geknechteten Gesellen ihre Würde zurückgegeben.
• Solidarität heißt: Menschen brauchen das soziale Handeln ihrer Mitmenschen. Kolping hat das vorgelebt.
• Subsidiarität heißt: Wer Menschen stark machen will, muss die Bindungen stärken, die ihnen am nächsten sind. Kolping hat seinen Gesellen die Chance verschafft, in Geborgenheit zu lernen und ihren Glauben zu festigen.·
Sein Mut, seine Beharrlichkeit und seine Glaubenstiefe beeindrucken mich. Adolph Kolping ist ein Vorbild für alle Christlich-Sozialen.
Karl-Josef Laumann·
Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft
Veröffentlicht in Idee & Tat, Zeitschrift für Leitungskräfte in den Kolpingsfamilien, Nr. 4/2013
|